önigin, Rote  Sie betritt die Bühne im Laufschritt. Diese ganz besondere Monarchin wurde vor zwanzig Jahren zu einem festen Bestandteil biologischer Theorien und hat seither von Jahr zu Jahr mehr an Bedeutung gewonnen. Folgen Sie mir, wenn Sie wollen, in das dunkle Labyrinth vollgestopfter Regale in einem Büro der University of Chicago, vorbei an Bücherstapeln, die mühsam das Gleichgewicht bewahren, und an meterhohen babylonischen Türmen aus Papier. Zwängen Sie sich zwischen zwei Aktenschränken hindurch und betreten Sie ein schauerliches Kämmerchen, nicht größer als eine Besenkammer, in dem ein älterer Mann sitzt - in kariertem Hemd und mit einem grauen Bart, der sicher länger ist als der von Gottvater persönlich, aber nicht so lang wie der von Charles Darwin. Sie stehen vor dem Propheten der Roten Königin: Leigh Van Valen, einem unbeirrbaren Ergründer evolutionärer Prinzipien. Lange bevor sein Bart grau war, durchforstete Van Valen eines schönen Tages im Jahre 1973 seinen unergründlichen Verstand nach einem Begriff, der eine neue Entdeckung umschreiben sollte, auf die er soeben gestoßen war. Er hatte herausgefunden, daß die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Familie von Tieren ausstirbt, unabhängig davon ist, wie lange diese Familie bereits existiert hat. Mit anderen Worten: Arten verbessern ihre Überlebensfähigkeit nicht (noch werden sie im Alter gebrechlich, wie dies bei Individuen der Fall ist). Das Risiko für ihr Aussterben ist dem Zufall unterworfen.

Die Bedeutung seiner Entdeckung war Van Valen nicht verborgen geblieben. Er hatte einen wesentlichen Aspekt der Evolution erkannt, der von Darwin vernachlässigt worden war: Der Existenzkampf wird nie leichter; wie gut eine Art auch ihrer Umgebung angepaßt ist - sie kann sich nie ausruhen, denn ihre Konkurrenten und Feinde passen sich ihren Nischen ebenfalls an. Überleben ist ein Spiel, bei dem unter dem Strich nichts bleibt. Eine Art wird durch ihren Erfolg lediglich zu einem noch lohnenderen Ziel für andere rivalisierende Spezies. Van Valen erinnerte sich seiner Kindheit, und sein Geist entzündete sich an den lebenden Schachfiguren, denen Alice hinter den Spiegeln begegnet. Die Rote Königin ist eine furchterregende Frau, die wie der Wind läuft, aber niemals irgendwohin zu gelangen scheint: »›Nun, in unserer Gegend‹, sagte Alice, noch immer ein wenig atemlos, ›kommt man im allgemeinen woandershin, wenn man so schnell und so lange läuft wie wir eben.‹ ›Behäbige Gegend!‹ sagte die Königin. ›Hierzulande mußt du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst. Und um woandershin zu kommen, muß man noch mindestens doppelt so schnell laufen!‹« - Matt Ridley, Eros und Evolution. Die Naturgeschichte der Sexualität. München 1995 (zuerst 1993)
 


Königin

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