nöterich
Meister Tjing versteckte sich hinter der Tür und schaute heimlich
hinein, aber er konnte nicht erkennen, was das für ein Kind war. Das Merkwürdige
war, das Kind war nicht mehr als ein Tschi groß, aber nach dem, wie es sich
verhielt und sprach, mußte es älter als zehn Jahre sein. Gerade als Meister
Tjing hineingehen wollte, um zu fragen, lief das Kind mit einemmal weg und war
verschwunden. Meister Tjing rief den kleinen Mönch zu sich und fragte ihn, aber
er wußte nicht mehr, als daß das Kind immer durch den Wasserabfluß
kam und durch den Wasserabfluß wieder ging.
Da untersuchte Meister Tjing den Wasserabfluß, der durch die Mauer führte und in einem ausgehöhlten Stein endete. Rings um den Stein war alles dicht mit Knöterich bewachsen. Weiter unten lagen bewässerte Felder, durch die das Kind nicht kommen konnte. Als Meister Tjing die üppig großen Knöterichblätter sah, fiel ihm plötzlich wieder ein, was ihm einst sein eigener Meister erzählt hatte: >Alle dreitausend Jahre wächst am Knöteri.ch ein Kind, das aussieht wie ein richtiges Menschenkind, das läuft und spricht. Wer so ein Kind findet und es dämpft und ißt, der wird unsterblich, kann durch Wasser und Feuer gehen und weiß alles fünfhundert Jahre im voraus und kann sich an alles erinnern, was vor fünfhundert Jahren war.<
Meister Tjing glaubte bestimmt, daß es ein Knöterichkind war, und überlegte, wie er es fangen könnte. Damit das Kind weiter zu dem kleinen Mönch spielen kam, ging er wie gewöhnlich jeden Morgen weg und kam erst abends wieder, als ob gar nichts gewesen wäre. Heimlich aber kaufte er drei Pfund Hanf und ließ daraus eine dünne Schnur machen. Jeden Tag, wenn er wegging, nahm er die Schnur mit, versteckte sich irgendwo in der Nähe und beobachtete, was vor sich ging. So wartete er sechs Tage lang.
Am siebenten Tag kam das Kind und sagte weinend zu dem kleinen Mönch: »Ich komme mich verabschieden, Freund. Ich kann nicht mehr wiederkommen.« Der kleine Mönch wunderte sich und fragte, warum. Da sagte das Kind: »Dein Meister will mich umbringen.« Nun mußte auch der- kleine Mönch weinen. Auf einmal hörten sie ein lautes Husten, und als sie aufblickten, sahen sie am Klostertor Meister Tjing dastehen wie einen Höllenwächter. Das Kind verschwand schnell durch den Wasserabfluß, und in der Eile hatte es einen Blumentopf umgeworfen. Zur Strafe dafür verprügelte Meister Tjing den kleinen Mönch und sperrte ihn ein. Drei Tage war der kleine Mönch eingeschlossen und wußte nicht, was draußen geschehen war. Denn an jenem Tag hatte Meister Tjing, als er das Kind ins Kloster gehen sah, aus der Hanf schnur eine Schlinge geknüpft und sie in den Wasserabfluß gelegt. Dann hatte er absichtlich am Tor so laut gehustet. Als das Kind in den Wasserabfluß schlüpfte, war es in die Schlinge geraten, und als es sich in der Erde vergrub, hatte es die Schlinge mit sich gezogen. Meister Tjing ging der Schnur nach, und als er drei Dschang und drei Tschi tief gegraben hatte, stieß er tatsächlich auf eine Knöterichwurzel von Menschengestalt. Ehe er sie zum Dämpfen aufstellte, fiel ihm ein, daß sein Meister seinerzeit noch gesagt hatte, wenn man das Knöterichkind vor dem Dämpfen in sein Gewand einwickelte und einhundertzwanzig Tage lang Weihrauch davor abbrannte, dann würde man, wenn man es gegessen hatte, nicht nur unsterblich, sondern zum Buddha werden.
Zum Buddha zu werden war natürlich besser als nur unsterblich zu werden, darum beschloß Meister Tjing, das Knöterichkind nicht gleich zu essen. Er rechnete nach, und in einhundertzwanzig Tagen war gerade das Jahr zu Ende. Da freute er sich erst recht, denn den goldenen Bambus abzuhacken und am gleichen Tag das Knöterichkind zu essen war wirklich ein doppelter Gewinn. Sein Plan war gefaßt, er wickelte das Knöterichkind in sein Gewand und legte es in einen Holzkasten, den er in der Haupthalle des Klosters in eine Nische stellte. Seitdem ging Meister Tjing nicht mehr aus dem Kloster. Den ganzen Tag saß er ehrfürchtig vor der Nische und machte Verbeugungen, las Gebete und brannte Weihrauch ab.
Endlich war der letzte Tag des Jahres da. Gleich am Morgen schickte Meister Tjing den kleinen Mönch zum Betteln weg und schloß das Klostertor. Dann schärfte er zwei große Messer, nahm das Knöterichkind aus der Nische und setzte es in einem großen bambusgeflochtenen Gefäß zum Dämpfen auf.
Ehe das Knöterichkind gar war, kam der kleine Mönch vom Betteln zurück und überbrachte Meister Tjing eine Einladung von Li Jenschan. Als er gleich darauf immer wieder durch Boten gemahnt wurde, konnte Meister Tjing die Sache nicht abschlagen und ging los. Vorher schärfte er dem kleinen Mönch ein: »Das Dämpfgefäß auf dem Herd darf auf keinen Fall aufgemacht werden. Du mußt nur Feuerholz nachlegen und Wasser in den Kessel darunter nachgießen und warten, bis ich nach Hause komme.« Der kleine Mönch dachte sich nichts dabei und setzte sich vor den Herd, um Holz nachzulegen und Wasser nachzugießen. Am späten Nachmittag war alles Holz verbrannt, Wasser hatte er auch schon mehr als zehnmal nachgegossen, Meister Tjing aber war noch nicht wieder da. Aus dem Dämpfgefäß duftete es so appetitlich, daß der kleine Mönch es nicht aushielt und zu gerne nachsehen wollte, was eigentlich darin war. Der Meister würde es doch nicht merken. Ein paarmal hatte er schon dazu angesetzt, und schließlich machte er den Deckel auf. Da blieb ihm vor Schreck fast das Herz stehen, denn in dem Dämpfgefäß lag ein Kind, weiß und rund, das war mit einem dunkelroten Leibtuch bedeckt. Es war sein kleiner Freund. Der kleine Mönch warf sich über den Herd und weinte bitterlich. Und als seine Tränen auf das Kind fielen, begann es zu sprechen: »Weine nicht, mein Freund! Iß mich schnell auf!« »Nein, ich esse dich nicht, ich werde dich retten!« »Das geht nicht«, sagte das Kind. »Ich kann nicht mehr ins Leben zurückkehren. Hör zu, mein Freund! Ich bin kein Mensch, ich bin ein Knöterich, und wer mich ißt, kann unsterblich werden oder zum Buddha werden.« Aber der kleine Mönch weinte noch immer. »Ich will nicht unsterblich werden«, sagte er, »und ich will auch nicht zum Buddha werden. Egal, ob du ein Mensch bist oder nicht, du bist doch mein Freund!« Da wurde das Kind ungeduldig und rief: »Wenn du mich jetzt nicht ißt, kommt Tjing Kung und ißt mich.« Als der kleine Mönch den Namen Tjing Kung hörte, überkamen ihn Furcht und Schrecken. Mit beiden Händen griff er das Kind und begann zu essen. Als er es aufgegessen hatte, fiel er in Schlaf.
Als Meister Tjing vom Neujahrsfest bei Li Jenschan nach Hause kam, beeilte er sich und trat in die Küche. Dort fand er den kleinen Mönch schlafend vor dem Herd und konnte ihn weder mit Worten noch mit Fußtritten wecken. Da machte er das Dämpfgefäß auf, aber es war leer. Er dachte, das Feuer sei wahrscheinlich zu stark gewesen und die Zeit zu lang, so daß das Knöterichkind zerkocht und in den Wasserkessel geflossen war. Also stellte er das Dämpfgefäß beiseite und schöpfte mit der Kelle von der Flüssigkeit aus dem Kessel. Als er eben eine Kelle davon getrunken hatte, sah er plötzlich einen goldenen Strahlenkranz um den Kopf des kleinen Mönchs spielen, der sich jetzt schwebend leicht vom Boden erhob. Meister Tjing begann vor Schreck zu zittern, und die Kelle fiel ihm aus der Hand.
Der kleine Mönch trat vor ihn hin und sagte laut und deutlich: »Du schurkischer
Mönch! Gestehe, daß du den goldenen Bambus gestohlen hast!« Als Meister Tjing
leugnete, sagte der kleine Mönch: »Ich will keine Worte weiter verschwenden,
hier sind die Beweise, die du selbst versteckt hast!« Damit zog er das goldene
Bambusrohr unter dem Herd hervor und holte unter dem Bett in der Zelle die beiden
Messer heraus. Als Meister Tjing sah, daß seine Sache schlecht stand, schlug
er mit der Stirn auf den Boden und bat um Gnade. Der kleine Mönch befahl: »Hol
eine Teekanne!« Gehorsam holte Meister Tjing die Kanne. »Gieß die Flüssigkeit
aus dem Kessel in die Teekanne!« sagte der kleine Mönch. Als die Flüssigkeit
in die Kanne gefüllt war, befahl er: »Stell dich vor die große Halle!« Da stellte
sich Meister Tjing vor die Halle und blieb steif wie eine Holzfigur stehen.
Der kleine Mönch aber ging mit der Teekanne zum Klostector hinaus und goß die
Flüssigkeit in einem Kreis rings um das Kloster aus. Gerade als der Kreis geschlossen
war, war die Kanne leer. Das Goldbambuskloster sank auf den Grund des Flusses.
- Chinesische Märchen. Hg. und Übs. Rainer Schwarz.
Frankfurt am Main 1981
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