nochenklappern Ich sehe mir ein Bild genauer an, das an einem Ehrenplatz hängt. Es stellt eine schöne junge Frau mit schwindelerregendem Dekolleté dar. Ihr Anblick weckt in mir kannibalische Gelüste. Ihr Blick scheint zu sagen: 'Kommen Sie doch heute abend zu mir.' Ein nicht mehr einzulösendes Versprechen.
Auf einem Schildchen kann der Betrachter lesen, daß es sich um Mademoiselle de Meneval handelt, gemalt von Archet. Entstehungsjahr des Meisterwerks: 1908.
Hinter mir höre ich so was wie'n Knochenklappern. An einer Seite des Salons wird ein Vorhang zur Seite geschoben, und herein tritt die Hausherrin.
Das Nachtgespenst ist dürr und vertrocknet. Wird wohl ihre achtzig Lenze
auf dem krummen Buckel haben, wie Régine geschätzt hat. Nach einer Spur der
ehemaligen Schönheit sucht man vergebens. Auch wenn die Gräfin geizig ist: Mit
ihren Reizen hat sie so wenig gegeizt, daß nichts mehr davon übriggeblieben
ist. Ihre Kleidung ist ein Kompromiß zwischen der Mode ihrer Blütezeit und der
von 1958. Die Wirkung ist deprimierend. Die dick aufgetragene Schminke kann
die braunen Schatten unter ihren flinken Auglein nicht verbergen. Gestern das
Vergnügen, heute das Herz. Früher wird das Herz bei dem Vergnügen wohl kaum
eine Rolle gespielt haben. Mit ihren Beinen ist auch nicht mehr viel los. Gestützt
auf einen Stock, schleppt sich Madame mühevoll vorwärts. Daher das Knochengeklapper,
das ich eben wahrgenommen habe. Es könnte aber auch von der vierreihigen Perlenkette
verursacht worden sein, die das - Gott sei dank geizige! - Dekolleté bedeckt.
Alles in allem eine schaurige Sinfonie! -
Léo Malet, Wer einmal auf dem Friedhof liegt ... Reinbek bei Hamburg
1994 (zuerst 1982)
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