Kneipenbekanntschaft  Die übrigen Personen in dem Raum, auch den Schankwirt, betrachtete der Beamte gewissermaßen aus Gewohnheit, ja, geradezu mit Langerweile und zugleich auch mit einer Spur hochmütiger Geringschätzung, als wären das Leute von geringerem Stand und Herkommen, mit denen er nichts zu reden habe. Er war über die Fünfzig hinaus, von mittlerer Größe und kräftigem Körperbau, mit angegrautem Haar und einer großen Glatze, mit einem vom Trinken aufgedunsenen, gelben, ja fast grünlichen Gesicht und mit angeschwollenen Lidern, hinter denen wie aus kleinen Schlitzen winzige, aber beseelte, gerötete Augen glänzten. Doch irgend etwas berührte sehr sonderbar an ihm: in seinem Blick leuchtete gleichsam Begeisterung - also hatte er wohl einmal Verstand und Vernunft gehabt -, doch zugleich funkelte darin eine Art Irrsinn. Er trug einen alten, völlig abgerissenen schwarzen Frack, dem die Knöpfe fehlten. Ein einziger hielt noch irgendwie, und diesen hatte er auch zugeknöpft, weil er offenbar die Regeln des Anstands nicht verletzen wollte. Aus seiner Nankingweste sah ein ganz verdrücktes Oberhemd hervor, verschmiert und mit Schnaps begossen. Das Gesicht war, wie bei Beamten üblich, rasiert, aber es war lange her, daß das zum letztenmal geschehen war, so daß dichte bläuliche Borsten die Wangen überzogen. Auch in seinen Bewegungen lag wirklich etwas Würdevoll-Beamtenhaftes. Doch er schien unruhig zu sein; er raufte sich das Haar und stützte manchmal den Kopf gramvoll auf beide Hände, wobei er die durchgescheuerten Ellbogen auf den nassen, klebrigen Tisch setzte. Schließlich blickte er Raskolnikow starr an und begann laut und mit fester Stimme zu sprechen: »Darf ich es wagen, mein sehr geehrter Herr, mich mit einem anständigen Gespräch an Sie zu wenden? Denn obgleich Ihr Äußeres nicht sehr bedeutend wirkt, erkennt meine Erfahrung in Ihnen dennoch einen gebildeten und ans Trinken nicht gewöhnten Menschen. Ich habe Bildung immer hoch geschätzt, wenn Sie mit einem fühlenden Herzen Hand in Hand geht, und außerdem bin ich Titularrat. Marmeladow ist mein Name, Titularrat. Darf ich fragen, ob Sie im Staatsdienst gestanden haben?«

»Nein, ich studiere...« antwortete der junge Mann einiger­maßen erstaunt, sowohl über die absonderliche, gezierte Redeweise wie auch darüber, daß der Fremde ihn so geradeheraus und ohne Umschweife angesprochen hatte. Trotz seinem eben erst für einen Augenblick empfundenen Wunsch nach irgendeiner wie auch immer beschaffenen Gemeinschaft mit Menschen spürte er bei dem ersten Wort, das wirklich an ihn gerichtet wurde, plötzlich das gewohnte unangenehme, gereizte Gefühl des Abscheus vor jeder fremden Person, die ihm nahekam oder nur nahekommen wollte.

»Also ein Student oder ein ehemaliger Student!« rief der Beamte. »Ich hab es mir ja gedacht! Erfahrung, geehrter Herr, langjährige Erfahrung!« Und mit einer Gebärde des Lobes tippte er sich mit dem Finger gegen die Stirn. »Sie waren Student oder haben sich mit den Wissenschaften befaßt! Doch erlauben Sie . . .«

Er erhob sich taumelnd, nahm Flasche und Glas und setzte sich zu dem jungen Mann, ihm schräg gegenüber. Er war betrunken, doch sprach er beredt und gewandt, wobei er nur von Zeit zu Zeit bei einzelnen Stellen aus dem Geleise kam und die Wörter in die Länge zog. Er stürzte sich geradezu mit einer gewissen Gier auf Raskolnikow, als hätte auch er einen ganzen Monat lang mit niemandem gesprochen.

»Sehr geehrter Herr«, fuhr er beinahe feierlich fort, »Armut ist keine Schande, das ist richtig. Ich weiß auch, daß Trunkenheit keine Tugend ist, das ist noch richtiger. Aber betteln, sehr geehrter Herr, betteln ist eine Schande. In der Armut bewahrt man sich noch den Edelsinn der angeborenen Gefühle, als Bettler kann das niemand ... nie. Wenn man bettelarm ist, wird man nicht einmal mehr mit dem Stock davongejagt, sondern mit dem Besen aus der menschlichen Gesellschaft hinausgefegt, damit es nur ja beleidigend sei. Und das ist recht so; denn bin ich bettelarm, dann bin ich auch als erster bereit, mich selber zu beleidigen. Und aus diesem Grunde trinkt man dann! Sehr geehrter Herr, vor einem Monat hat Herr Lebesjatnikow meine Gemahlin verprügelt, und meine Gemahlin ist etwas ganz anderes als ich! Verstehen Sie, Herr? Gestatten Sie mir noch eine Frage - einfach so, aus bloßer Neugier: geruhten Sie schon einmal in den Heubarken auf der Newa zu übernachten?«

»Nein, noch nie«, antwortete Raskolnikow. »Wie kommen Sie darauf?«

»Nun ja, ich komme von dort, und es ist schon die fünfte Nacht, mein Herr ...«.

Er schenkte sich ein, trank das Glas aus und wurde nachdenklich. Tatsächlich sah man auf seinem Anzug und sogar in seinem Haar einzelne Heuhalme, die dort hängengeblieben waren. Höchstwahrscheinlich hatte er sich diese fünf Tage nicht ausgezogen und nicht gewaschen. Besonders seine Hände waren schmutzig, fettig und rot, und seine Fingernägel waren schwarz.  - Fjodor M. Dostojewskij, Schuld und Sühne. München 1987

 

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