neifer  »Einen Augenblick, Julia«, unterbrach Dr. Bickleigh. Er stand auf und stellte sich vor den Kamin, mit dem Rücken zum Feuer. Er war ganz ruhig, nicht einmal nervös. Die erhebende Stimmung, in der er sich immer befand, wenn er mit Madeleine zusammen gewesen war, hielt noch bei ihm vor. »Auch ich will mit dir sprechen. Über Miss Cranmere. Ich möchte dir das sagen. Ich liebe Miss Cranmere, und sie liebt mich.«

Julias blaßblaue, vorstehende Augen blickten ihn forschend durch ihre dicken Kneifergläser an. Einige Augenblicke lang schwieg sie, vielleicht vor Erstaunen über die erste würdige Rede, die sie je von ihrem Mann gehört hatte. Dann sagte sie: »Das habe ich befürchtet.« Ihr Ton war so normal, als hätte sie ihn ersucht, ihr die Butter herüberzureichen.

Dr. Bickleigh fühlte etwas auf der linken Seite seiner Brust einen kleinen Sprung machen. Es wurde ihm klar, daß er nicht ganz so ruhig war, wie er sich eingebildet hatte. »Es ... tut mir leid, Julia«, sagte er lahm und verdarb damit völlig die Wirkung.

»Nun, Edmund, es hat nicht viel Sinn, sich zu entschuldigen«, erwiderte sie mit energischer Nüchternheit. »Vielleicht sagst du mir lieber, was du nun zu tun gedenkst?«

Aber das war gerade das, was Edmund nicht wußte. Verwirrt deutete er dies an.

Julia sah ihn noch immer scharf prüfend an, als hätte sie ihn kaum je zuvor gesehen. »Und woher soll ich wissen«, sagte sie langsam, »daß dies nicht wieder eine der gewöhnlichen, schmutzigen Beziehungen ist, in die du dich seit unserer Heirat ununterbrochen eingelassen hast? Nein, nimm dir nicht die Mühe, das zu leugnen. Ich habe immer gewußt, wie du dich benommen... Irene Sampford, Sybil Whitechurch, das Ryder-Mädel, die Tochter des Dekans Prior in Merchester, Ivy Ridgeway, sogar Mabel Christow. Ich habe nichts gesagt, weil Gemeinheiten dieser Art mich nicht interessieren. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, daß wir uns einmal richtig aussprechen. Wie soll ich wissen, daß diese Beziehung zu Miss Cranmere nicht wieder so ist?«

Dr. Bickleigh errötete. Madeleines Namen in einem Atemzug mit Irenes, Ivys, Mabels ... Er begann erregt zu sprechen.

Julia unterbrach ihn. »Sehr schön. Ich sehe, daß du glaubst, dieses Mädchen wirklich zu lieben. Und wahrscheinlich hast du Gelegenheit gehabt herauszufinden, daß sie glaubt, dich zu lieben. Ob das nun stimmt oder nicht, wird man ja sehen. Obwohl die Bekanntschaft recht kurz ist, nicht wahr?«

Dr. Bickleighs gemurmelte Antwort schien sagen zu wollen, daß, wenn zwei Leute vollkommen aufeinander abgestimmt sind, man nicht Jahre braucht, um diese Tatsache festzustellen; das wird auf den ersten Blick klar.

»Liebe auf den ersten Blick. Aha. Höchst romantisch in deinem Alter«, sagte Julia nickend, aber ihr Ton war weniger unfreundlich als ihre Worte. »Nun, Edmund, ich frage dich wieder: Was soll ich mit dieser deiner Liebe auf den ersten Blick anfangen? Es ist Pech, daß du eine Frau hast, aber so ist es eben. Immerhin, wenn es dich tröstet, dann will ich es ganz klar in Worte kleiden, daß ich dich nicht im geringsten liebe und es auch nie getan habe. Ich habe dich geheiratet, um einer unhaltbaren Situation zu Hause zu entkommen. Du hast darum völlig recht, wenn du annimmst, daß ich keinen moralischen Anspruch auf dich habe. Du kannst also ganz aufrichtig sprechen.«

»Das ist furchtbar anständig von dir, Julia«, rief Dr. Bickleigh aus und errötete vor Dankbarkeit und Erleichterung. Wirklich, die gute Julia war ...

»Ich habe vielleicht ein paar anständige Empfindungen, wenn du mir auch nie welche zugetraut hast«, sagte Julia unbewegt. »Nun?«

»Nun ... ich dachte, du könntest dich von mir scheiden lassen.« Trotz ihrer Aufforderung, ehrlich zu sprechen, fühlte Dr. Bickleigh beträchtliche Hemmungen. Schließlich...

»Ja, natürlich. Aber ich fürchte, meine Anständigkeit geht nicht so weit, daß sie dir erlaubt, dich von mir scheiden zu lassen. Und dann ist dir doch klar, daß so etwas deine Praxis hier sofort ruinieren würde?«

»Ja. Ich habe daran gedacht, anderswo wieder anzufangen.«

»Hm. Und ich fürchte, du würdest mir eine Rente auszahlen müssen. Wie du weißt, habe ich kein Geld. Wie stellst du dir vor, daß du dies kannst und zugleich eine neue Praxis aufbaust?«

»Ach, ich glaube, das würde keine Schwierigkeiten machen, Julia.«

»Ich verstehe. Du willst deiner ersten Frau eine Pension vom Gelde deiner zweiten bezahlen?«

»Ich... ich habe mir die Einzelheiten noch nicht überlegt«, stotterte Dr. Bickleigh.

Julia strich die schwarze Seide auf ihrem Schoß glatt, nahm ihren Kneifer ab, putzte ihn mit ihrem Taschentuch, setzte ihn wieder auf und sah ihren Mann an. »Nun höre zu, Edmund. Du kannst dir wohl vorstellen, daß ich normalerweise dieser deiner Idee nicht einen Augenblick lang zuhören würde. Ich tue es doch, weil Miss Cranmere darin verwickelt ist. Selbst du hast genug Verstand gehabt, zu erkennen, daß sie ein höchst ungewöhnliches Mädchen ist. Ich will nichts über ihren Geschmack sagen, gerade didi aus all den Männern auszuwählen, die froh sein sollten, sie zu heiraten. Aber ich will sagen, daß du dich als höchst glücklich preisen darfst, und zwar ganz unverdient. Ich kann nicht sagen, daß ich sie gut kenne. Außer den Besuchen, die wir einander gemacht haben, und unserer Tennisgesellschaft hier, sind wir kaum zusammengekommen. Aber sie hat einen höchst günstigen Eindruck auf mich gemacht. Einen höchst günstigen.

Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung unserer Ehe, bin ich bereit, dir eine Chance zu geben. Aber ich muß sicher sein, daß sie sich über ihre Gefühle zu dir nicht täuscht - deine für sie will ich als gegeben annehmen. Darum stelle ich die Bedingung, daß wir alle drei ein Jahr lang so weiterleben wie bisher In diesem Jahr könntet ihr euch so oft sehen wie ihr wollt. Und wenn sie dich am Ende des Jahres noch heiraten will, dann sollst du deine Scheidung haben.« - Francis Iles, Vorsätzlich. München o. J. (Goldmann 3059, zuerst 1931)

Kneifer (2)

Henri de Toulouse-Lautrec mit Kneifer

- N. N.

 

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