leiderordnung  Mrs. Carrie Chapman Catt, die Instrukteurin in Sachen Frauenwahlrecht, hat ein edles Vertrauen in den Individualismus. Sie behauptet, um sein Publikum zu finden, müsse man sich zu allererst selbst finden. »Organisieren Sie sich selbst«, sagte sie, »und das Land wird sich ebenfalls organisieren.« Während sie sprach, bekamen um die siebzig Studentinnen das ›Studentinnengesicht‹, als sie sich über ihre Notizbücher beugten, von denen die sengende Wahrheit der Zukunftsgläubigkeit emporloderte.

»Wie sollen wir die Menge denn gewinnen?« wollte eine zaghafte Studentin wissen, die dreißig Jahre lang einen verstockten Gatten umgeben hatte.

»Das ist zwar die leichteste Frage von der Welt«, sagte die Vortragende, »doch läßt sie sich nur schwer beantworten. Eins kann man jedoch von vornherein sagen: Tragen Sie niemals ein Kleid, aus dem vorn die Füße herausschauen. Lassen Sie niemals zu, daß die Zuhörer den Eindruck zweier deutlich sich abhebender pedaler Extremitäten mitnehmen.

Zweitens, nehmen Sie niemals eine kämpferische Pose ein; kommen Sie Ihrem Publikum nicht mit einer geballten Faust, die als Teigwalker Dienst getan hat. Den Geist mögen sich die Leute ja vielleicht gern durchwalken lassen, nicht aber ihre Anatomie.

Drittens, tragen Sie nichts Getüpfeltes. Ja, ich spreche von Pünktchen, denn wenn Sie den Zuhörern ›blümerant‹ vorkommen, kann man gewiß sein, daß sie torkelnd in der Straßenmitte nach Hause gehen. Man kann sich an einem schwindelerregenden Kleiderstoff genauso berauschen wie über einer Pinte Twelve Star.

Viertens, tragen Sie weder Hut noch Handschuhe. Der Hut überschattet Ihr Gesicht, und die Handschuhe verhüllen Ihre Seele.«  - Djuna Barnes, New York. Berlin 1987 (zuerst 1913)

Kleiderordnung (2)   In seinen Erinnerungen an seine Türkeireise im Jahre 1914 tut André Gide kund, wie sehr er die Türken verabscheue, und noch dazu nennt er sie dabei nicht »Volk«, sondern bedient sich des damals in Mode geratenden Terminus »Rasse«: »Diese Rasse hat genau die gräßliche Kleidung verdient, in der sie herumläuft!« Stolz vermerkt der Schriftsteller, seine Türkeireise habe ihm die Überlegenheit der westlichen und insbesondere der französischen Zivilisation wieder einmal vor Augen geführt. Als jene Zeilen, die der damaligen türkischen Schriftstellerelite und namentlich Yahya Kemal in der Seele weh taten, veröffentlicht wurden, gab es nicht wie heute eine türkische Boulevardpresse, die eine Salve empörter Antworten abgefeuert hätte, sondern die Intellektuellen Istanbuls verheimlichten gewissermaßen diese Beleidigungen vor dem Volk und grämten sich in aller Stille. Einer der Gründe dafür war natürlich, daß die Intellektuellen Gide insgeheim recht gaben. Ein Jahr nachdem die Texte, in denen Gide die türkischen Kleidersitten geschmäht hatte, als Buch herauskamen, setzte Atatürk, der bedeutendste aller Europäisierer, die türkische Kleiderreform durch und ließ sämtliche nichtwestlichen Kleidungsformen kurzerhand verbieten.  - Orhan Pamuk, Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt. Frankfurt am Main 2011
 
 

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