lassik  Die alexandrinischen Philologen sind die ersten, die eine Auswahl der älteren Literatur als Lesestoff für die Grammatikerschulen hergestellt haben. Die Terminologie für die Einteilung der Literatur in Formgruppen ist schwankend. Quintilian (X 1 , 45) braucht den Ausdruck genera lectionum, für «Schriftstellerverzeichnis » sagt er ordo a grammaticis datus (ib. 54). Schwankend ist aber auch der Terminus für «Musterautoren». Sie heißen bei den Alexandrinern «die (in die Auswahl) Aufgenommenen».  Diese Bezeichnung ließ sich nicht latinisieren. Sie konnte in die moderne Sprache ebenso wenig übergehen wie Quintilians genera lectionum oder seine umständlichen Umschreibungen mit ordo (auctores in ordinem redigere I 4, 3) und numerus (in numerum redigere X 1 54).

Es mußte ein neues bequemes Wort gefunden werden. Aber erst sehr spät und nur ein einziges Mal taucht der Name classicus auf: bei Aulus Gellius (Noctes Atticae XIX 8, 15). Dieser gelehrte Sammler antoninischer Zeit erörtert eine Fülle grammatischer Streitfragen. Soll man quadriga und arena im Plural oder im Singular gebrauchen? Dafür halte man sich an den Sprachgebrauch eines Musterautors: e cohorte illa dumtaxat antiquiore vel oratorum aliquis vel poetarum, id est classicus adsiduusque aliquis scriptor, non proletarius; «irgendeiner der Redner oder Dichter, wenigstens aus jener älteren Schar, das heißt ein erstklassiger und steuerpflichtiger Schriftsteller, nicht ein proletarischer». Nach der servianischen Verfassung waren die Bürger in fünf vermögensklassen eingeteilt. Die Bürger der ersten Klasse heißen dann kurzweg classici. Schon Cicero (Ac. II 73) braucht den Ausdruck metaphorisch, wenn er Demokrit über stoische Philosophen stellt, welche er der fünften Klasse zurechnet. Der proletarius, den Gellius zum Vergleich nennt, gehört überhaupt keiner Steuerklasse an. Als Sainte-Beuve 1850 die Frage erörterte, was ein Klassiker sei, paraphrasierte er den Gelliustext: un écrivain de valeur et de marque, un écrivain qui compte, qui a du bien au soleil, et qui n‘est pas confondu dans la foule des prolétaires (Causeries du lundi III 39). Welcher Leckerbissen für eine marxistische Literatursoziologie!

Die Stelle aus Gellius ist lehrreich. Sie zeigt, daß der Begriff des Musterschriftstellers im Altertum auf das grammatische Kriterium der Sprachrichtigkeit hingeordnet war. Die Geschichte der neueren Sprachen hätte zu untersuchen, wann und wo der ganz vereinzelte Sprachgebrauch, den wir bei Gellius finden, in die moderne Kultur eingedrungen ist. Daß ein so viel umkämpfter und mißbrauchter Grundbegriff unserer Bildung wie der der Klassik auf einen heute nur den Fachleuten bekannten spätrömischen Autor zurückgeht, ist mehr als eine reizvolle philologische Kuriosität. Es veranschaulicht — was wir schon so oft feststellen konnten — das Walten des Zufalls in der Geschichte unserer literarischen Terminologie. Was hätte die moderne Ästhetik getan, um Rafael, Racine, Mozart, Goethe unter. einen gemeinsamen Begriff zu bringen, wenn Gellius nicht gewesen wäre? Imposante Systeme, die Jahrhunderte in Atem hielten, wären nie entstanden, wenn nicht die servianischen Steuerklassen gewesen waren. Über Klassik hätte man kaum diskutieren können, hätte man das Wort classicus verstanden. Aber weil unverstanden, war es von einem geheimnisvollen Nimbus umhüllt, der an den polierten Marmor des Apoll von Belvedere erinnert. Wir können den Begriff des Klassischen nicht mehr entbehren und brauchen nicht darauf zu verzichten. Aber dem Recht, unsere ästhetischen Kategorien historisch zu durchleuchten, wollen wir ebenso wenig entsagen. Es ist eine Horizonterweiterung, für die wir dem Historismus des 19. und 20. Jahrhunderts dankbar sind.

Der Begriff des «Klassischen» hat, so stellen wir fest, einen sehr bescheidenen, nüchternen Ursprung. In den letzten zweihundert Jahren ist er über Gebühr und über alles Maß aufgebläht worden. Es war ein folgenreicher, aber auch fragwürdiger Schritt, daß um 1800 das griechisch-römische Altertum en bloc als «klassisch» erklärt wurde. Die geschichtlich unbefangene, aber auch die ästhetisch unbefangene Würdigung der Antike wurde damit für ein Jahrhundert verbaut. Gerade wer das Altertum in allen seinen Epochen und Stilen liebt (eine Liebe, die freilich seltener ist, als man denken möchte), wird seine Erhebung zum «Klassischen» als öde und verfälschende Schulmeisterei empfinden. Der verklärte und verklärende Gymnasialhumanismus, der sich auch heute noch gern ins Erbauliche steigert, ist der Antipode des echten und kühnen Humanismus freier Geister. - Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern und München 1948

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