Klassengesellschaft    Die Einwohnerschaft von Paris ist aufgeteilt in acht scharf voneinander abgegrenzte Klassen: die zahlenmäßig schwächste davon ist die der Prinzen und der großen Herren, dann folgen die Tälarträger, die Finanzleute, die Krämer oder Kaufleute, die Künstler, die Handwerker, die Lohnarbeiter, die Lakaien, und den Schluß macht das Gesindel.

Der Stand der Talarträger wiederum hat drei verschiedene Stämme: das Gericht, die Kirche und die Medizin. Das Gericht bevölkert eine wimmelnde Kohorte von Individuen, die allesamt von gefährlichstem Heißhunger befallen zu sein scheinen. Die Kirche hätschelt dafür Heerscharen weißbekragter Seminaristlein, die sich gleich schwarzen Wolken in der Nähe der Theologieschulen zusammenballen. Aber auch der Ärztestand hat seine eigenen Zweige: da gibt es Scharlatane jeder Art, die, mit dem Schröpfkopf oder einer Medizin zur Hand, von einer Tür zur ändern eilen, um jedermann, sei er leidend, sei er kerngesund, bald nach hypokratischer, bald nach galenischer, bald nach paracelsischer Art zu kurieren.

Der Stand der Finanzleute reicht vom Generalpächter des Steuerwesens bis zum kleinen Winkelwucherer. Das Rückgrat dieser üblen, unersättlichen Hydra aber bilden die Spekulanten -Krokodile einer neuen Sorte. Verächtlich sind sie, und verachten wird sie eines Tages jedermann, denn ihre Gier wird ständig unerträglicher.

Vom selbstbewußten Stolz der Kaufherren, wie man ihm noch in der Provinx begegnen kann, ist in Paris wenig übriggeblieben. Da die großen Herren niemals bar bezahlen, sind die Händler dauernd gezwungen, sich vor ihren besten Kunden oder deren Dienerschaft zu erniedrigen. Es mag befremden, daß diejenigen, die nicht bezahlen, bestürmt werden, noch mehr zu kaufen, doch da sich der Lieferant die Schuld verzinsen läßt und seinerseits nur auf Kredit lebt, gleicht sich das wieder aus. Wenn allerdings gar kein Geld hereinkommt, ist er übel dran, Das Risiko, das diese Kaufleute eingehen, indem sie Ware liefern, die sie ihrerseits auf Pump bezogen haben, macht sie mißtrauisch, ängstlich und niederträchtig. Wem sich aber diese Charakterzüge einmal eingeprägt haben, der wird sie nie mehr los; sie bestimmen fortan sein ganzes Tun, seine Art aufzutreten, ja, sogar seinen Geschmack. Vergebens sucht er darüber hinwegzutäuschen; sein ebenso aufgeblasenes wie unbeholfenes Gehaben verrät ihn immer.

Obschon weniger reich, haben da die Künstler den Kaufleuten einiges voraus. Sie geben sich unabhängig, was ihnen Anmut und Ungezwungenheit verleiht. Da die Künstler vorab ihren Geist arbeiten lassen, legen sie bei ihrem Tun mehr Geschmack an den Tag. Wobei allerdings das Gewerbe der Maler, Architekten und Bildhauer keineswegs nur mit Kunst zu tun hat, im Gegensatz etwa zu dem der ihnen in dieser Beziehung überlegenen Komponisten.

Bürgerliche Ignoranz stellt den Künstler und den Schriftsteller oft auf dieselbe Stufe, obschon sie ein weiter Abstand trennt. Der Schriftsteller ist dem Künstler überlegen. Wenn man Corneille und Moliere die Arme abgeschnitten hätte, wären sie dennoch Corneille und Moliere geblieben, denn die Literaten sind eine Klasse für sich - nobilitas literata. Am glücklichsten von allen dürften die Handwerker sein. Auf ihren Fleiß und ihre Geschicklichkeit bauend, sind sie zufrieden mit ihrem Geschick, was ebenso weise wie unendlich selten ist.

Ohne besonderen Ehrgeiz und auch ohne Eitelkeit verdienen sie sich, was sie zum Leben und zu ihrem Vergnügen benötigen, und sind dabei, weil auf alle Stände gleichermaßen angewiesen, ehrlich und nett zu jedermann. Anders als das liederliche und manchmal allzu freie Leben der Künstler, verläuft dasjenige der Handwerker in geordeten Bahnen, und man wäre versucht zu sagen, daß sie eben deshalb ihre Tage in Ruhe und Seelenfrieden verbringen, weil sie sich nicht den Raffinessen des Luxus verschrieben, sondern nützlicheren Dingen zugewandt haben, Niemals wird, sagen wir ein Emaillen-Maler, so rechtschaffen wirken wie etwa ein Tischler.

Betrachten wir schließlich noch philosophischen Blickes all die Müßiggänger und Nichtsnutze, die sich in manchen Klassen herumtreiben, die vielen noblen Männlein und Weiblein, die ihren Adel bis auf Adam und Eva zurückführen; dann die Herrschaften im zweiten Rang, die ihren Titel von den Heldentaten irgendeines längst verblichenen Vorfahren herleiten; des weiteren die unzähligen Kanzlisten, Gerichtsdiener, Gerichtsvollzieher und Schreiber, die vielen tausend Renomierlakaien, die als Bedienstete lediglich die Steuerlast erhöhen... Ja, und wenn wir außerdem noch all die Leute ins Auge fassen, deren läppisches Tagewerk dem Lande nichts als Unglück bringt, all die Kerle, die mit Patronentaschen behängt, weiter nichts als Hasen und Karnickel hüten, all die Zinsleinpicker, die kaum eine andere Beschäftigung kennen als die des Vor-sich-hin-Dösens, dazu die Kutscher, die Postillone, die Stallburschen, und wenn wir all dem noch die gewaltigen Scharen der Mönche, der Domherren, der Kaplane und der übrigen Schuldenmacher beifügen, dann erkennen wir mit Schrecken, wie wenige Menschen doch eigentlich etwas wirklich Nützliches tun, sich um die Schaffung echter Werte bemühen. Und doch sind es einzig die Arbeitsleute, die dem Staat zu Reichtum verhelfen; ohne sie würde alles darniederliegen, zerfallen, absterben.    - Louis Sébastien Mercier, Mein Bild von Paris. Frankfurt am Main 1979 (zuerst ca. 1780)

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