Kirchlein  Tief unten im Tal lag, fast ganz von Dornenbüschen und Wildrosen bedeckt, dieses Juwel von Kirchlein. Seine Mauern aus grauen Steinquadern blickten auf einen finsteren, jahrhundertealten Haselnußwald, in dem die Lichtungen mit ihrem Teppich aus welken Blättern einen nicht weniger sakralen Raum bildeten, auch wenn er natürlich noch archaischer war. Das Kirchlein war — außer, wie schon gesagt, von Dornenbüschen und Wildrosenhecken - auch von Farnen umklammert. Ich glaube, daß Farne dieser Art ungemein selten sind: sie waren fast so groß wie kleine Bäume. Und sie wuchsen so dicht auf dem Gelände an der Ruine - auf diesem  Gelände befand sich irgendwann wohl einmal der Friedhof - daß es unmöglich schien, dort bis zum Inneren des Kirchleins durchzudringen, von dem lediglich die vier Hauptmauern stehengeblieben waren. Von der Decke und allem anderen war auch nicht der Hauch eines Schattens übriggeblieben Nun mußte der Mann, der dort in dem Kirchlein hockte inmitten einer, wenn überhaupt möglich, noch verwachseneren Wildnis aus Brennesseln und verflixt stacheligen Büschen, ein Wunder vollbracht haben, um dorthin durchzudringen. Jedenfalls war er da. Und er hockte, was ich ja schon gesagt habe, die Hose heruntergezogen, mit reichlich entblößtem Hintern, den Kopf zwischen die Beine gesenkt, und, soweit man es sehen konnte, die Augen schrägstehend, wie die eines Verdammten und Schaum vor dem Mund. Doch alles von der Seite aus gesehen, denn die Wehen, die diesen Mann hier hineingetrieben hatten, zwangen ihn nun, seinen Kopf in verzweifelter Gebärde gesenkt zu halten. Hinter ihm, sozusagen als platonisches Modell und auch ein ganz klein wenig überheblich in seiner Art, 'still sprechend zu erziehen', befand sich ein schöner Heiliger, die einzige unversehrte Figur eines Freskos aus dem Quattrocento, in dem alle anderen Figuren auf glückselige Weise kopflos waren. Ein hübsches scharlachrotes Wams verhüllte unseren Heiligen, wahrscheinlich den heiligen Eusoundso; ein Wams, aus dem weiß und hellgrün (ein verschossenes Russischgrün) gestreifte Ärmel hervorbauschten. Die Beinkleider waren morellenrot: aber sie waren ziemlich schamlos aufgeschnürt (fast so, wie die des fernen Urenkels, der, wie ein Hund seibernd, unterhalb von ihm hockte). Mit einer eleganten Bewegung der Hand deutete unser heiliger Eusoundso auf eine Wunde am Schenkel, genau unter der Leiste. Die Hand also, die auf die jene tödliche Wunde zeigte und dabei das Beinkleid herunterzog, verharrte genau oberhalb des Schwanzes: denn von Schwanz konnte man nun wirklich und gerechterweise bei diesem Mannskerl sprechen, einem Bild von einem Bauernburschen, den der anonyme Maler als Modell am Ort ausgesucht haben mußte.    - Pier Paolo Pasolini, Petrolio. Berlin 1994
 
 

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