Kiosk   Ich beklage den geschäftlichen Niedergang meiner Zeitungsfrau, wie mich auch ihr körperlicher Verfall im Herzen dauert. Sie, der Engel der Büd-chensteher, die ihr über die schamlosen Auslagen gewisser Hefte hinweg stets einen züchtigen und hilfsbereiten Hof bildeten, war bis vor einem Jahr noch eine ansehnliche, muntere Person, eine kleine, rundliche Platinblonde mit perlmuttenem Lidschatten, immer gefällig und herzensgut. Inzwischen ist sie kaum wiederzuerkennen. Im Gesicht und an den Hüften breit angeschwollen, das steifgesprayte, toupierte Haar hängt schief am Kopf, mit beiden Fäusten stützt sie sich am Ladentisch, stemmt sich mühsam auf gegen ihre bleierne Betrunkenheit. Ihr Lächeln findet nun kaum noch aus dem gedunsenen, wie mit Asche geschminkten Gesicht heraus, überwindet die Wülste, Flecken und Rillen nicht, es wird zu einer blödsinnigen Grimasse. In diesen erbarmungswürdigen Zustand verfiel sie kurz nach dem Tod ihres Mannes, weniger wohl aus Trauer als aus einfacher Entkräftung, nach langer erschöpfender Sorge.

Der Gatte, alkoholkrank und unbeschäftigt, kam täglich gegen elf in unsere Straße, um sich im Kiosk seiner Frau die Tagesration zu holen. Oft blieb er unter meinem Fenster stehen und schnaufte mit hochrotem Kopf. Am späten Nachmittag kam er wieder, um leere Flaschen gegen die Abendration zu tauschen, die er in seiner Plastiktüte heimtrug. Still, aussichtslos und unbeirrt teilte er seinen Tageslauf in diese beiden Besorgungen auf. Eines Tages aber kam er nicht mehr, und am Kiosk blieb der Rolladen unten. ›Wegen eines traurigen Ereignisses bleibt mein Geschäft heute geschlossen‹ stand auf einem ausgehängten Pappschild. Seitdem hatte die Zeitungsfrau, die zu Lebzeiten des Mannes die Aufsicht behielt und selber nicht oder nicht bemerklich trank, der Nachlässigkeit und der Verwahrlosung Tor und Tür geöffnet. Ein furchtbares ›Alles egal!‹ fraß sich wie Gift durch ihre ordentliche Lebensführung, und ihr hübscher wohlsortierter Laden verwandelte sich binnen kurzem in ein stinkendes, verdrecktes Asyl. Ein stechender Mief von Urin, Hundefell und nie gewechselter Kleidung schlägt mir nun jeden Morgen entgegen, wenn ich mir die frischen Nachrichten hole. Viele ihrer treuen Kunden, vor allem ältere Frauen, kaufen ihre Illustrierten schon längst nicht mehr hier. Auf den Regalen und am Ladentisch entstehen immer neue Lücken, leere Flächen, wo Blätter nicht mehr bestellt oder nicht mehr geliefert werden, vermutlich höherer Zahlungsrückstände wegen. Nur ihr kleiner, verdunter erotischer Hof ist ihr geblieben, der Kreis der verschmitzten Elenden, der sich immer enger um sie schloß, bis sie selber in seinen Dunst überging.  - Botho Strauß, Der junge Mann. München Wien 1984

 

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