Kinderstuhl  Da stand ein Tischlein, putzig klein, mit einem Stühlchen zu einem flachen Pütt verbunden. Die Armlehnen verjüngten sich und gingen in feinem Schwung in die hochgezogenen Randleisten der Platte über. Allein von oben war ein Einstieg auf die Sitzfläche möglich. Die Tischplatte schmückte ein buntes Bild, und mit knirschenden Zähnen, den Brechreiz immer neu hinunterwürgend, mühte ich mich, mein Hinschauen so zu justieren, daß ich das Aufgemalte deuten könnte. Aber die letzte Schärfe blieb mir doch versagt; ich kann nur sagen, daß es menschliche Gestalten waren, vermutlich Märchenoder Sagenwesen, die, zu Posen erstarrt, unter dem harten Lack verharrten.

Also ließ ich den Tisch, versuchte statt dessen, das Wesen des an ihn geleimten Stühlchens zu ergründen. Obwohl in zierlicher Manier wie ein bequemer Schreibtischstuhl gestaltet, verriet das Möbel, aus meiner Vogelperspektive angeschaut, seinen wahren Zweck. Eine kreisrunde Öffnung war in seine Sitzfläche gesägt, und durch das Loch schimmerte perlmutt-farben der Boden eines eingehängten Topfes. Das Material, aus dem der Pott gefertigt war, erschien mir plötzlich von beklemmender Bedeutung. Ich ahnte, daß es ein früher Kunststoff war und daß sein bloßer Name, den längst die Namen neuerer Plaste in Vergessenheit hatten geraten lassen, gerade mir noch etwas Dringliches zu sagen hatte. Im Grund des Topfes war die Materialbezeichnung in spiegelverkehrten Lettern eingegossen, aber das Lesen, das mich vielleicht gerettet hätte, wurde mir hoffnungslos erschwert durch ein Erkennen. In einer wahnwitzigen Ignoranz hatte ich einen Umstand bislang aus meinem Sehen ausgeschlossen: Das Pultchen war nicht leer. Da saß ein transparentes Kind. So seltsam vag und hell, daß ich nicht sicher bestimmen konnte, ob ein Junge oder ein Mädchen dort zu hocken hatte. Allerdings ließ mich eine Eigentümlichkeit doch annehmen, daß dieser durchscheinende Körper eher einem Bub gehörte.

Vom Kinn des Kindes oder von seinen Lippen hing, halb wie ein Bart, halb wie eine an falscher Stelle ausgetriebene Nabelschnür, ein fleischfarbenes Gewächs herunter. Es hatte mit der sanften Gewalt des Wurzelkeims die Tischplatte durchstoßen und ringelte sich, einem Schwänzlein ähnlich, unterhalb des Tisches. Mir schienen tausend Jahre Ekel, ein Kaiserreich der Scheu und Abscheu, an diesem Auswuchs aufgehängt. Mein Flug riß ab. Die längst schon überspannte Drehung, die Rotation meines rücksichtslos einsinnigen Besinnens, entkrampfte sich in rhythmischem Erbrechen. - Georg Klein, Barbar Rosa. Berlin 2001

Kind Stuhl


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