inderabenteuer
Vergeblich suche ich in mir die kompakten Erinnerungen und die sanfte Unvernunft
der Bauernkinder. Ich habe niemals Höhlen gegraben und Vogelnester gesucht,
niemals botanisiert und mit Steinen nach den Vögeln geworfen. Aber die Bücher
waren meine Vögel und meine Nester, meine Haustiere, mein Stall und mein Gelände;
die Bücherei war die Welt im Spiegel; sie hatte deren unendliche Dichte, Vielfalt,
Unvorhersehbarkeit. Ich stürzte mich in unglaubliche Abenteuer: ich mußte auf
Stühle klettern, auf Tische und riskierte dabei, Lawinen auszulösen, die mich
begraben hätten. Die Bücher auf dem obersten Regal blieben lange außerhalb meiner
Reichweite; andere wurden mir, kaum hatte ich sie entdeckt, wieder aus der Hand
genommen; noch andere versteckten sich: ich hatte sie gehabt, hatte sie zu lesen
angefangen, glaubte sie wieder an ihren Platz gestellt zu haben, brauchte aber
eine Woche, ehe ich sie wiederfand. Es kam zu schrecklichen Begegnungen: ich
öffnete ein Album und stieß auf eine farbige Abbildung, scheußliche Insekten
wimmelten vor meinen Augen. Ich lag auf dem Teppich und unternahm anstrengende
Reisen mit Hilfe von Fontenelle, Aristophanes, Rabelais. Die Sätze leisteten
mir genauso Widerstand wie die Dinge; man mußte ihnen auflauern, sie umgehen,
man mußte so tun, als entferne man sich, und dann rasch zu ihnen zurückkommen,
wollte man sie unbewaffnet überraschen: die meiste Zeit behielten sie ihr Geheimnis
für sich. Ich war La Pérouse, Magalhäes, Vasco da Gama; ich entdeckte sonderbare
Wilde: Das Wort «Heautontimoroumenos» in einer Terenz-Übersetzung in Alexandrinern,
das Wort «Idiosynkrasie» in einem Buch über vergleichende Literaturgeschichte.
Apokope, Chiasma, hundert andere undurchdringliche und abweisende Kaffern traten
aus so einer Seite hervor, und wo sie erschienen, fiel der ganze Abschnitt auseinander.
Den Sinn dieser harten und schwarzen Wörter habe ich erst zehn oder fünfzehn
Jahre später kennengelernt, und auch heute noch haben sie ihre Dichtigkeit beibehalten:
sie sind der Humusboden meines Gedächtnisses. - Jean-Paul Sartre, Die Wörter. Reinbek bei Hamburg 1968
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