Kieselstein   Eines Tages von einem der zahllosen Karren der Woge herbeigebracht, die seitdem, so scheint es, nur noch fürs Ohr ihrer eitlen Last sich entledigen, ruht jeder Kieselstein auf den angehäuften Gestaltungen seines ehemaligen Zustands und seiner Zukunft. Nicht weit von den Stätten, wo noch eine Humusschicht seine riesigen Vorfahren bedeckt, unterhalb der Felsbank, wo sich der Liebesakt seiner unmittelbaren Eltern vollzieht, hat er seinen Sitz auf dem Boden, der von den Körnchen derselben gebildet wird, wo ihn die planierende Woge sucht und verliert.

Aber diese Stätten, auf die ihn das Meer gemeinhin verweist, sind denkbar ungeeignet für jede Bestätigung. Daß seine Völkerschaften hier ruhen, das weiß nur die Weite. Jeder einzelne glaubt sich verloren, weil er zahllos ist und weil er nur blinde Kräfte sieht, die über ihn Rechnung führen.

Und in der Tat, überall wo solche Herden ruhen, bedecken sie praktisch den ganzen Boden, und ihr Rücken bildet ein unbequemes Parterre für den Fuß wie für den Geist.

Keine Vögel. Grashalme sprießen manchmal zwischen ihnen. Eidechsen durchstreifen sie, huschen ohne Umstände um sie herum. Heuschrecken messen sich hier in Sprüngen eher untereinander, als daß sie an ihnen Maß nehmen. Menschen werfen manchmal zerstreut einen von ihnen weit weg.

Aber diese allerletzten Gegenstände, wahllos verstreut inmitten einer Einsamkeit, die von trockenen Gräsern, Seetang, alten Korken und anderen Überresten menschlicher Vorräte entweiht wird, wohnen stumm — inmitten stärkster Luftwirbel unerschütterlich — dem Schauspiel jener Mächte bei, die blindlings sich außer Atem rennen auf der sinnlosen Jagd nach allem und jedem.

Doch keiner Seite verpflichtet, verharren sie auf ihrem beliebigen Platz in der Weite. Ist der Wind auch so stark, daß er Bäume entwurzelt oder Häuser zerstört, einen Kieselstein kann er nicht von der Stelle bewegen. Aber wie er den Staub ringsum in die Luft aufwirbelt, legen die Frettchen des Orkans irgendeine jener Zufallsgrenzen frei, die seit Jahrhunderten unter der undurchsichtigen, vergänglichen Sandschicht ruhen.

Dem Wasser jedoch, das schlüpfrig macht und seinen Flüssigkeitscharakter allem mitteilt, was es gänzlich mit seiner Schutzhülle umschließen kann, gelingt es bisweilen, diese Gestaltungen zu verführen und sie mit sich zu reißen. Denn der Kieselstein erinnert sich daran, daß er dem Einwirken dieses gestaltlosen Ungeheuers auf das gleichfalls gestaltlose Ungeheuer des Steins sein Entstehen verdankt. Und weil seine Person nur in wiederholten Anläufen durch die Bemühungen des Flüssigen Vollendung finden kann, so bleibt sie ihm definitionsgemäß für immer gefügig. Glanzlos am Boden, wie der Tag glanzlos ist im Vergleich zur Nacht, verleiht ihm die Welle in dem Augenblick, da sie ihn erfaßt, Leuchtkraft. Und obwohl die sehr zart, wenngleich sehr aktiv haftende Flüssigkeit nicht in die Tiefe wirkt, ja kaum in das sehr feine, überaus dichte Agglomerat eindringt, ruft sie an seiner Oberfläche eine deutliche Veränderung hervor. Es scheint, daß sie sie wiederaufpoliert und auf diese Weise eigenhändig die Wunden verbindet, die ihr ihre frühere Liebe zugefügt hat. Für einen Augenblick gleicht nun das Äußere des Kieselsteins seinem Inneren: sein ganzer Körper erstrahlt in jugendlichem Glanz.

Indessen erleidet seine Form beide Arten der Umwelt bis zu ihrer Vollkommenheit. In der Unordnung der Meere bleibt sie unerschütterlich. Er kommt zwar kleiner, doch unversehrt aus ihr hervor und, wenn man so will, genau so »groß«, denn seine Maßverhältnisse hängen keineswegs von seinem Umfang ab. Dem Flüssigen entronnen, trocknet er sogleich. Das heißt, trotz der gewaltigen Anstrengungen, denen er unterworfen worden ist, vermag die Spur des Flüssigen nicht an seiner Oberfläche zu haften: ohne jede Mühe verwischt er sie.

Kurzum, mit jedem Tag kleiner, doch stets seiner Form gewiß, blind, fest und trocken in seinem Inneren, besteht sein Charakter darin, daß er sich von den Wassern nicht zerstören, sondern eher reduzieren läßt. Wenn er, besiegt, endlich Sand ist, dringt das Wasser daher nicht in ihn ein wie in Staub. Indem er nun alle Spuren festhält, außer eben denen des Flüssigen, das sich damit begnügt, jene von ihm abzuwaschen, die andere auf ihm hinterlassen, gewährt er dem ganzen Meer, das sich in seiner Tiefe verliert, freien Durchgang dem Meer, ohne daß es ihn dabei zu Schlamm verwandeln könnte.   - (lyr)

Kieselstein (2)

- Richard Müller

Kieselstein (3)  Ihm fiel in diesem Augenblick ein kleiner, runder, hell gefärbter Kieselstein ins Auge, der in die rauhe Zementwand eines alten Schuppens, der an den schmalen Fußweg der Dyehouse Lane grenzte, halb eingebettet war. Er blieb stehen und fuhr mit den Fingerspitzen über dieses kleine Stück. Es war offensichtlich früher einmal Teil, Bestandteil eines namenlosen, von einem Mee-rcsstrand geholten Kieselsteinhaufens gewesen, der wie hier - wo nicht weit weg noch andere, ähnliche eingebettet lagen - mit Mörtel und grobem Sand zum Bau billiger Wände verarbeitet worden war. Es war jedenfalls sehr ungewöhnlich, in Glastonbury auf diese Weise verwendete Kieselsteine zu finden, und diese hier waren die ersten in der Stadt, die John zu Gesicht bekam. Die Nachmittagssonne schien hell und warm auf die Schuppenwand, als John diesen kleinen runden Stein berührte, und in einem Hof hinter dem Gebäude begannen einige unsichtbare zahme Tauben mit einem leisen, lieblichen und rührseligen Gurren voll sinnlichen Behagens. Doch das Berühren des Kieselsteins trug Geist weit von diesem friedlichen Flecken fort. Ein dunkler, wilder, atavistischer Meergeist rührte sich in ihm, ein Geist, der aufs neue all den Stolz seines innersten Wesens bestärkte und nährte. »Diese morbide Religion mit Verzicht, Buße, okkulten Reinigungen und Verwandlungen« - so liefen seine erbarmungslosen Gedanken weiter-; »nie werde ich mich diesem Lebensbetrug unterwerfen! Wenn ich schwach, nervös und furchtsam bin, werde ich durch Verschlagenheit siegen. Und ich werde auch nicht wetteifern! Ich werde mein Leben hinlenken zu einer Religion mit Werten, die keinem von ihnen bekannt sind! Ich werde sie nicht nach ihren Maßstäben bekämpfen. Aber ich werde sie dennoch überwältigen! Ich werde Luft, Wasser und Feuer werden. Ich werde durch ihre Seelen fließen. Ich werde durch ihr innerstes Wesen fließen. Ich werde sie besitzen, ohne mich von ihnen vereinnahmen zu lassen!« Er besah sich den Kiesel noch einmal genauer. Er war nicht ganz rund; es war schwer, seine genaue Form herauszufinden, weil er so fest im Mörtel eingebettet war. Er hatte eine trüb rosa Farbe. Woher kam er? Von Chesil Beach? John hatte keine der beiden Küstenstrecken, die Glastonbury am nächsten lagen, gesehen, aber er wußte dunkel, daß die südliche Küste steil und felsig war, während die des Kanals von Bristol aus weitläufigen Gezei-tenschlammflächen bestand. Das war alles, was er wußte. Aber egal, wo der Stein herkam! Als er auf dieses harte, undurchsichtige Stück starrte, rann ein unglaublicher Strom erregter Böswilligkeit und vehementer Zerstörungslust durch seine Adern. Oh, wie ihm das gefallen, wie ihn das befriedigen würde, wenn eine große, wilde und salzige Welle aus der dunklen heidnischen See über diesen ganzen morbiden Landstrich fegen und die Erde von all diesen Hirngespinsten reinwaschen würde!   - (cowp)

Kieselstein (4) »Gestatten Sie mal«, sagte ich. »Ich habe gehört, >Ljubka Kasak< sei eine kleine Erzählung. Noch ungedruckt. Haben Sie aus dieser Erzählung vielleicht einen Roman gemacht?«

Babel legte die Hand auf das Manuskript und sah mich mit lachenden Augen an. In seinen Augenwinkeln sammelten sich kleine Fältchen.
»Nein«, gab er zur Antwort und errötete vor Verlegenheit. »Es ist die >Ljubka Kasak<. Eine Erzählung. Sie hat nicht mehr als fünfzehn Seiten Umfang. Hier sind jedoch alle zweiundzwanzig Varianten der Erzählung beisammen, die letzte mit eingeschlossen. Alles in allem umfaßt dieses Manuskript zweihundert Seiten.«

»Zweiundzwanzig Varianten!« murmelte ich verständnislos.

»Hören Sie !« sagte Babel, nun bereits ärgerlich. »Die Literatur ist kein Firlefanz! Jawohl! Zweiundzwanzig Varianten ein und derselben Erzählung! Entsetzlich, nicht wahr? Sie meinen vielleicht, das ist Luxus ? Ich für mein Teil bin noch nicht sicher, ob die zweiundzwamigste Variante druckreif ist. Ich glaube, sie läJ3t sich noch knapper fassen. Eben dieses Eliminierenj mein Bester, führt zu der selbständigen Kraft der Sprache und des Stils. Der Sprache und des Stils!« wiederholte er. »Ich nehme eine Bagatelle — eine Anekdote, irgendein Marktgeschwätz — und mache eine Sache daraus, von der ich mich selber nicht losreißen kann. Sie funkelt. Sie ist rund wie ein Kieselstein aus dem Meer. Sie besteht durch den Zusammenhalt der einzelnen Teilchen. Und die Kraft dieses Zusammenhalts ist so groß, daß nicht einmal der Blitz sie vernichten kann. Man wird sie lesen, diese Erzählung. Und man wird sie im Gedächtnis behalten. Man wird über sie lachen, aber keineswegs darum, weil sie lustig ist, sondern darum, weil man jedesmal lachen möchte, wenn einem Menschen etwas gelingt. Ich wage von Gelingen zu sprechen, weil außer uns beiden niemand anwesend ist. Solange ich lebe, dürfen Sie niemandem dieses Gespräch mitteilen. Geben Sie mir Ihr Wort darauf! Es ist natürlich nicht mein Verdienst, wenn von mir, dem Sohn eines kleinen Maklers, unerfindlich auf welche Weise, der Dämon oder der Engel der Kunst Besitz ergriffen hat, nennen Sie es, wie Sie wollen! Und ich unterwerfe mich ihm — wie ein Knecht, wie ein lastentragendes Maultier. Ich habe ihm meine Seele verkauft und muß auf die bestmögliche Weise schreiben. Das ist mein Glück oder mein Kreuz. Ich glaube — doch wohl mein Kreuz. Aber nehmen Sie es mir ab — und im gleichen Augenblick wird altes Blut aus meinen Adern und aus meinem Herzen weichen; ich werde wertlos sein wie ein zerkauter Zigarettenstummel. Diese Arbeit macht mich zum Menschen — ich bin kein bloßer Odessaer Straßenphilosoph.«  - Konstantin Paustowskij, Anhang zu (babel)

 

Stein

 

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