Kerkerfieber  Fanny machte einen Besuch in Newgate. Sie preßte sich ein parfümiertes Taschentuch vor die Nase und folgte dem Schließer die Wendeltreppe hinab ins Verlies. Ihre Schritte hallten wider wie Pistolenschüsse in einem Brunnen. Als die massige Eisentür in den Scharnieren aufschwang, warf sie der Geruch fast um. Drinnen herrschte eine düstere, ranzige Atmosphäre: aus Pfützen stiegen Dämpfe auf, aus den Schatten war Gestöhne zu hören. Behutsam trat sie vorwärts, und ihre Pupillen weiteten sich in dem Dämmerlicht. Schlamm saugte an ihren Schuhen, verwachsene Klauen versuchten sie zu packen, der Gestank nach Urin brannte ihr in den Augen. „He, kleiner Wackelarsch, setz dir mal auf mein Gesicht", kam eine Stimme. „Titten", riefeine andere, „Titten, Titten, Titten!" Eine urtümliche, animalische Angst befiel sie — die Angst davor, lebendig begraben, eingemauert zu sein, in eine Latrine hinabgerissen zu werden, immer tiefer und tiefer in die glitschigen, dampfenden hinereien der Erde, wo Dämonen einem das Fleisch von den Knochen zogen und heulende Bestien einem die Seele aussaugten und in harten schwarzen Bohnen wieder ausschissen. Fanny wich mit einem Schrei zurück, doch der Schließer ergriff sie am Ellenbogen. „Keine Angst, Fräulein", sagte er. „Achten Sie nich auf die... Sehnse, da is ja schon ihr Freund."

Ned war im Delirium, er plapperte von Fischköpfen und Töpfen voll Gold, er saß in seinem eigenen Kot, nackt und zitternd. Ein alter Mann mit gefletschten Zähnen lag tot neben ihm. Fanny drückte dem Schließer eine halbe Crown in die Hand, und er löste die Ketten an Neds Beinen, wickelte ihn in eine Decke und trug ihn hinaus. Später, in einer Privatzelle, säuberte Fanny ihren Geliebten mit einem Essigschwamm und machte ihm heiße Brühe. Sie hielt die dampfende Tasse an seine Lippen und küßte ihn. Er erbrach sich. Sah ihr in die Augen und schien sie nicht zu erkennen. Als der Arzt endlich da war, tropfte ihm der Schweiß herab, und er schlug den Kopf gegen die Wand. „Was hat er, Sir?" flehte Fanny. „Was fehlt ihm denn nur?"

Der Arzt war siebzig oder achtzig und trug enge Hosen und eine Perücke wie ein junger Dandy. Seine Nasenflügel blähten sich, als er eine Vene im Bein des Patienten öffnete und Ned zur Ader ließ, bis er still lag. „Kerkerfieber", sagte er lakonisch. „Entweder steht er's durch, oder er krepiert wie ein Hund. Werfen Sie 'ne Münze, wenn Sie's genau wissen wollen."   - T. Coraghessan Boyle, Wassermusik. Reinbek bei Hamburg 1990

 

Fieber Gefängnis

 

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