ennen    Nicht einmal in der privaten Sphäre entstehen Morde aus Antipathie, kommt Frieden aus der Genauigkeit des Einander-Kennens. Im Gegenteil: Menschen sind nicht so, daß es ihrem Verhältnis zueinander guttut, sich genau zu kennen. Daher liebt es sich so gut im Abstrakten. Wann hätte je die berüchtigte ›unüberwindliche Abneigung‹ den Gattenmord produziert? Eher die unüberwindliche Zuneigung zu einem anderen virtuellen Gatten.  - (blum3)

 Kennen (2)  Keinem werden wir, und Keiner uns, ganz angehören: dazu ist weder Verwandschaft, noch Freundschaft, noch die dringendeste Verbindlichkeit hinreichend. Denn sein ganzes Zutrauen, oder seine Neigung schenken, sind zwei weit verschiedene Dinge.  Auch die engste Verbindung läßt immer noch Ausnahmen zu, ohne daß deshalb die Gesetze der Freundschaft verletzt wären. Immer behält sich der Freund irgend ein Geheimniß vor, und in irgend etwas verbirgt sogar der Sohn sich vor dem Vater. Gewisse Dinge verhehlt man dem Einen und theilt sie dem Ändern mit, und wieder umgekehrt: wodurch man dahin gelangt, daß man Alles mittheilt und Alles zurückbehält, nur stets mit Unterschied der entsprechenden Personen. - (ora)

Kennen (3)   Miß Waterhouse trug ihr feines dunkelbraunes Haar lang. Jene, die sie gut kannten, behaupteten, sie tue dies, weil sie eben diese Art von Mädchen sei. Jene, die sie besser kannten, behaupteten, sie tue es, weil sie wolle, daß man sie für diese Art von Mädchen hielt. Nun ist es allerdings eine Tatsache, daß die, die uns besser kennen, uns nicht halbwegs so gut kennen, und daß sie, wenn sie es doch täten, nicht die Wahrheit über uns sagen würden. Geht man daher von Fakten aus, so kann man nur sagen, daß Miß Waterhouse wunderbares Haar hatte, das ihr bis zur Taille reichte und das sie in der Mitte gescheitelt trug, kompromißlos, ohne eine Spur von Wellen oder Locken oder in Figuren gelegt, die man ›Schnecken‹ nennt, nach hinten gekämmt. Aber, wie jene sagten, die Miß Waterhouse gut kannten, kümmerte sie sich nicht darum, ob etwas sie kleidete oder nicht, während jene, die sie besser kannten (und auf deren Wissen und Wort man sich, wie gesagt, unmöglich verlassen kann), behaupteten, sie tue dies, weil sie eben gerade diesen Eindruck zu geben wünsche, wobei sie jedoch auch und gerade in der Unkleidsamkeit anziehend bleibe - nun, auf beiden Seiten scheint es da nur wenig Beweise zu geben.

Gewiß konnte jemand, der sie überhaupt nicht kannte, ihr nicht nachsagen, daß sie es darauf anlege, gefällig zu wirken. Anders als Miß Jevons benützte sie weder Parfüm noch Puder, und ihren Lippen war der Lippenstift unbekannt. Sie hatte eine etwas wulstige Stirn, was sie bei ihrer Frisur hart enthüllte. Ihre Ohren waren weiß und klein, doch sie verbarg sie. Es war offenschtlich, daß Miß Waterhouse sich nicht darum kümmerte, wie sie aussah und doch sah sie immer attraktiv aus. Ihr breiter Mund lächelte auf eine langsame, ja fast bedächtige Weise, aber mit Charme. Ihre großen graublauen Augen blickten zumindest intelligent drein. Sie war ein hervorragender Zuhörer, und sie hatte die bewundernswerte Fähigkeit, für sich zu behalten, was sie dachte. Von allen weiblichen Mitgliedern der Lehrerschaft war sie das zurückhaltendste und interessanteste. Sie galt als Waise und als jemand der völlig auf seine eigenen Fähigkeiten angewiesen war. Niemand wußte allerdings, was dies für Fähigkeiten waren.- Anthony Berkeley, Der Kellermord. München 1979 (zuerst 1932)

Kennen (4)  »Dein Material ist dein Leben, das durchdenke, das kennst du am besten!«

Das ist eine schöne Maxime. Aber: »Dein Material ist dein Leben«, das ist doppelsinnig

»Dein Leben ist dein Material« - hier ist die zweite Bedeutung fast unkenntlich, sie rührt nur aus der Erinnerung an die erste Fassung des Satzes her

»Dein Leben kennst du am besten« - das ist auch mehrsinnig, je nach der Betonung. Sagt man: »Dein Leben kennst du am besten«, so ist das falsch. Wenn ich all die Menschen versammelte, die Erinnerungen an mich haben, so würden diese Erinnerungen mein Wissen von mir um das Vielfache übertreffen. Meine ersten Lebensjahre existieren nur in der Erinnerung Anderer, und noch von meiner Schulzeit könnten meine Verwandten, Lehrer, Mitschüler, Nachbarn ein umfassenderes und genaueres Bild entwerfen als ich. Und wieviel Verdrängtes, Vergessenes, mir nie Bewußt-Gewordenes mag im Bewußtsein Anderer existieren

»Dein Leben kennst du am besten«— stimmt das wirklich? Man könnte sich Fälle vorstellen — und ich kenne auch welche-, die anders liegen. Schließlich: »Dein Leben kennst du am besten« — das ist wieder falsch. Das eigene Leben kennt man von all dem Seinen am wenigsten; sein Arbeitszimmer, seinen Pudel, seinen Schrebergarten kennt man viel besser

Könnte es sein, daß ein Satz unter den verschiedenen Aspekten seiner Hauptbetonung in jedem Fall falsch, insgesamt, in der Gesamtansicht aller Aspekte, aber richtig ist? Dann gehörte zum Begriff des Aussagesatzes der Begriff des Optimums: Unter Berücksichtigung aller Aspekte die optimale Genauigkeit

Könnte man sagen: Optimale Eindeutigkeit? Und ist »eindeutig« ein eindeutiger Begriff? Und »eineindeutig«

Was ist das: »dein Leben«? Ein unreflektierter amorpher Moment des Jetzt, und Erinnerungen. Müßte man da nicht sagen: »Dein Leben ist das, woran du dich erinnern kannst«? Aber die Säuglingszeit gehört doch auch zu diesem »dein Leben«, und an die erinnert man sich nicht, während hinwieder Pater Kornelius Barycs, an den ich mich erinnern konnte, nicht mein Leben ist

Kann man sagen: »Dein Leben ist die Summe deiner Erinnerungen«? Zweifellos nicht; »dein Leben« ist mehr. Aber das Leben, worüber man verfügt, das einem Besitz ist, das einem das Handeln in der Gegenwart und das Denken in die Zukunft erlaubt, das ist doch die Summe der Erinnerungen

Ist die Summe der Erinnerungen gleich der Summe der Erfahrungen? Kann man sagen: »Je größer die Summe der Erinnerungen, um so größer die Aktionsfähigkeit«? Wohl doch. Aber gibt es nicht auch ein Vergessen als Stärkung, als Heilprozeß, als conditio sine qua non des Weiterlebens? Ja, aber zuerst ein Bewältigen

Sich-Erinnern, um vergessen zu können. Die Vergangenheit, an die ich mich erinnern kann, habe ich bewältigt, sie ist dadurch Erfahrung geworden; die andere Vergangenheit ist mir entfremdet und kann mich überwältigen (immer wieder: das unheimliche Haus

»Die Vergangenheit, an die ich mich erinnern kann«- dies »kann« ist dreideutig: »können« im Sinn von »vermögen«; »können« im Sinn von »dürfen«; schließlich »können« in einem unbelasteten Sinn, ohne Fortsetzung eines »ohne zu« ... (erröten, erkranken, stocken, erbleichen usw.)

»Ich vergesse das, was ich gelebt habe!« - »Vergiß das, was ich gelebt habe!« Diese Art von Satzwandlung ist verblüffend; es steckt ein merkwürdig gebrochenes Wunschdenken darin  - Franz Fühmann, Drei Tage von zweiundzwanzig: Budapest. In: F. F., Den Katzenartigen wollten wir verbrennen. München 1988 (zuerst 1973)


Wissen

 


Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe

Synonyme