Kauen   Unter dem Essen lenkte der Doktor die Rede aufs Essen und merkte an, er wundre sich über nichts mehr, als daß man, bei der Seltenheit von Kadavern und vollends von lebendigen Zergliederungen, so wenig den für die Wissenschaft benutze, in dem man selber stecke, besonders im Sommer, wo tote faulen. »War' es Ihnen zuwider, Herr Mehlhorn, wenn ich jetzo z. B. den Genuß der Speisen zugleich mit einem Genusse von anatomischen Wahrheiten oder Seelenspeisen begleitete?« - »Mit tausend Wohlgefallen, teuerster Herr Doktor,« sagt' er, »sobald ich nur kapabel bin, Ihrer gelehrten Zunge zu folgen.« - »Sie brauchen bloß zu meinem Sprechen zu kauen; nämlich bloß von der Kaufunktion will ich Ihnen einen kleinen wissenschaftlichen Abriß geben, den Sie auf der Stelle gegen Ihre eigne, als gegen lebendiges Urbild, halten sollen. - Nun gut! — Sie käuen jetzt; wissen Sie aber, daß die Hebelgattung, nach welcher die Kaumuskeln Ihre beiden Kiefern bewegen (eigentlich nur den untern), durchaus die schlechteste ist, nämlich die sogenannte dritte, d. h. die Last oder der Bolus ist in der größten Entfernung vom Ruhepunkte des Hebels; daher können Sie mit Ihren Hundzähnen keine Nuß aufbeißen, obwohl mit den Weisheitzähnen. Aber weiter! Indem Sie nun den Farsch da auf Ihrem Teller erblicken: so bekommt (bemerken Sie sich jetzt) die Parotis (hier ungefähr liegend) so wie auch die Speicheldrüse des Unterkiefers Erektionen, und endlich gießt sie durch den stenonischen Gang dem Farsche den nötigen Speichel zu, dessen Schaum Sie, wie jeder andere, bloß den ausdehnenden Luftarten verdanken. Ich bitte Sie, lieber Zoller, fortzukäuen, denn nun fließet noch aus dem ductus nasalis und aus den Tränendrüsen alles nach, woraus Sie Hoffnung schöpfen, so viel zu verdauen, als Sie hier verzehren. Nach diesem Seedienst kommt der Landdienst.« —

Hier lachte der Zoller über die Maßen, teils um höflich zu erscheinen, teils das Mißbehagen zu verhehlen, womit er unter diesem Privatissimum von Lehr-Kursus alles verschlang; — gleichwohl mußt' er fortfahren, zu genießen. —

»Ich meine unter dem Landdienst dies: jetzt greift Ihr Trompetermuskel ein und treibt den Farsch unter die Zähne — Ihre Zunge und Ihre Backen stehen ihm bei und wenden und schaufeln hin und her - ausbeugen kann der Farsch unmöglich — auswandern ebensowenig, weil Sie ihn mit zwei häutigen Klappen (Wangen im gemeinen Leben) und noch mit dem Ring-muskel oder Sphinkter des Mundes (dies ist nur Ihr erster Sphinkter, nicht Ihr letzter, damit korrespondierender, was sich hier nicht weiter zeigen läßt) auf das schärfste inhaftieren und einklammern - kurz der Farsch wird trefflich zu einem sogenannten Bissen, wie ich sehe, zugehobelt und eingefeuchtet. — Nun haben Sie nichts weiter zu tun (und ich bitte Sie um diese Gefälligkeit), als den fertigen Bolus in die Rachenhöhle, in den Schrundkopf abzuführen. Hier aber hört die Allmacht Ihres Geistes, mein Umgelder, gleichsam an einem Grenzkordon auf, und es kommt nun nicht mehr auf jenes ebenso unerklärliche als erhabne Vermögen der Freiheit (unser Unterschied von den Tieren) an, ob Sie den Farsch-Bissen hinunterschlukken wollen oder nicht (den Sie noch vor wenigen Sekunden auf den Teller speien konnten), sondern Sie müssen, an die Sperrkette oder Trense Ihres Schlundes geheftet, ihn nun hinabschlingen. Jetzt kommt es auf meine gütige Zuhörerschaft an, ob wir den Bissen des Herrn Zollers begleiten wollen auf seinen ersten Wegen, bis wir weiterkommen.« —

Mehlhorn, dem der Farsch so schmeckte wie Teufelsdreck, versetzte: »wie gern er seines Parts dergleichen vernehme, brauch' er wohl nicht zu beschwören; aber auf ihn allein komm' es freilich nicht an.« - »Ich darf denn fortfahren?« sagte der Doktor.  - (katz)

Kauen (2)  Leute beim Kauen beobachten: immer wieder sind mir die kurzzähnig (in Analogie zu kurzbeinig) sowie die hochzähnig (in Analogie zu hochbeinig) Mahlenden dabei aufgefallen. Der normalzähnig {in Analogie zu normalgewichtig) Beißende übt weder zuviel noch zuwenig Druck auf die Speise, die sein Mund be-welt-igen muß, aus. Er verweilt darüber weder zu kurz noch zu lange. Aber seine Spezies stirbt aus. Immer häufiger, in typologischer Hinsicht, die vielen Esser, die beim Kauen nicht bis drei zählen können, weil sie gar so gierig sind, und die nicht minder vielen, die bei härteren Brocken über dreißig hinausgelangen, weil sie gar so schwach auf Gebiß und Kiefer sind.  - Ginka Steinwachs, Anhang zu (ap)
 
 

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