atastrophe Es
zersprangen die Grenzen der Staaten und die Tafeln der Gesetze, es öffneten
sich die Schleusen blinder Kräfte und - ach! - plötzlich befand ich mich in
Argentinien, vollkommen allein, abgeschnitten, verloren, ein Anonymer. Ein wenig
war ich erregt, ein wenig erschrocken. Aber zugleich hieß mich etwas in mir
den Schlag mit leidenschaftlicher Ergriffenheit begrüßen, der mich vernichtete
und aus meiner bisherigen Ordnung hinausstieß. Krieg? Untergang Polens? Das
Schicksal mir Naher, meiner Familie ? Mein eigenes Los? Habe ich mich darüber
aufregen können in einer Art, wie soll ich sagen, in normaler Art, ich, der
ich das alles schon im voraus wußte, der das schon lange empfunden hatte - ja,
ich lüge nicht, wenn ich sage, daß ich schon seit Jahren in mir mit einer Katastrophe
beschäftigt gewesen war. Als dies nun geschah, sagte ich mir etwas in der Art:
»Ach, also schon! . . .«, und begriff, daß die Zeit gekommen war, um diese Fähigkeit
des Sich-Trennens und des Im-Stich-Lassens zu nützen, die ich in mir gebildet
hätte. Nichts hatte sich ja geändert, dieser Kosmos, dieses Leben, in dem ich
gefangen war, war darum nicht anders geworden, daß eine gewisse, bestimmte Ordnung
meiner Existenz zu Ende gegangen war. Aber ein Schauer irgendeiner entsetzlichen
und fieberhaften Erregung gebar sich aus der Empfindung, daß die Gewalt dieses
unnennbare und unformbare Etwas frei werden ließ, dessen Gegenwart mir nicht
fremd war, ein Element, von dem ich nur wußte, daß es »niederer«, »jünger« ist
- und das jetzt wie eine Flut in schwarzer und gewaltsamer Nacht losbrach. Ich
weiß nicht, ob ich klar genug sein werde, wenn ich sage, daß ich mich vom ersten
Augenblick an in diese Katastrophe verliebte, die ich haßte, die doch auch mich
ruinierte - daß mich meine Natur sie begrüßen hieß als Gelegenheit, mich. mit
dem Niedereren in Dunkel und Finsternis zu vereinigen. - (
gom
)
Katastrophe (2) Außer der als mythisch angesehenen
Sintflut und den legendären ozeanischen Untergängen (Atlantis,
Ys, usw.) mißt die gängige Geschichte den Katastrophen wenig Bedeutung bei.
Die schwarze Pest von 1348, die Cholera von 1832, die spanische Grippe von 1918
scheinen keinerlei Bedeutung gehabt zu haben. Wir werden bei der Analyse der
in den Annalen festgehaltenen Fakten auf diese Frage zurückkommen müssen. Es
ist jedenfalls eine Tatsache, daß das Erdbeben in Japan von 1923 nur geringe
wirtschaftliche Auswirkungen gehabt hat und daß die Epidemie von 1918 die Gewinne
der Lebensversicherungsgesellschaften nur geringfügig vermindert hat. Es wird
auch das Beispiel der Stadt Lima angeführt, die mehr als zehnmal vom Erdbeben
zerstört worden ist und immer wieder aufgebaut wurde. - Raymond Queneau,
Eine Modellgeschichte. München 1985