Kastanienbaum    Wenn ich den <Matin> öffnete, faßte mich eisiges Entsetzen. Eine Geschichte vor allem machte mir großen Eindruck. Ich erinnere mich noch ihres Titels: »Wind in den Bäumen«. Ein Sommerabend, eine kranke Frau ist allein im ersten Stock eines Landhauses. Sie wälzt sich ruhelos in ihrem Bett hin und her; ein Kastanienbaum streckt seine Zweige durch das offene Fenster ins Zimmer. Im Erdgeschoß sind ein paar Menschen zusammen, unterhalten sich und schauen zu, wie die Nacht über den Garten hereinbricht. Plötzlich zeigt einer auf den Kastanienbaum: «Sieh an, sieh an! Ist es denn windig?» Man wundert sich und tritt auf die Terrasse: kein Lüftchen regt sich; aber die Blätter des Baumes sind in Bewegung. In diesem Augenblick ertönt ein Schrei. Der Ehemann der Kranken stürzt die Treppe hinauf und findet seine junge Frau aufgerichtet im Bett, sie zeigt mit dem Finger auf den Baum und fällt tot um; der Kastanienbaum ist wieder vollkommen ruhig. Was hat sie gesehen? Ein Irrer ist aus der Anstalt entsprungen; er wird sich im Baum versteckt und ihr sein grimassierendes Gesicht gezeigt haben. Er ist's gewesen, er muß es gewesen sein, denn keine andere Erklärung wäre befriedigend. Und trotzdem... Wieso hat man ihn nicht gesehen, als er auf den Baum kletterte? Oder als er wieder herunterkletterte? Warum haben die Hunde nicht gebellt? Wie konnte er hundert Kilometer von dem Hause entfernt sein, als man ihn sechs Stunden späterwieder einfing? Fragen ohne Antwort. Der Erzähler ging leicht darüber hinweg und schloß mit dem beiläufigen Satz: «Wenn man den Dorfleuten glauben soll, so war es der Tod, der die Zweige des Kastanienbaumes geschüttelt hat.»    - Jean-Paul Sartre, Die Wörter. Reinbek bei Hamburg 1968
 

Baum


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