analsystem
Sie verließen die Büroglocke durch eine runde Öffnung, die unter dem Schreibtisch
aufgedeckt wurde, und nun ging es wiederum ein langes Stück treppabwärts, bis
sie eine weitverzweigte unterirdische Kanalanlage erreichten, die sich unter
einer niedrigen, tropfenden Höhlendecke wie ein großstädtisches Abwässersystem
ausbreitete. Es waren aber keineswegs Abwässer, sondern vielmehr die Grundwässer
des Menschen, >Ströme des Lebens<, wie es hieß, die hier vielfarbig und
still, hell und trüb, glänzend und matt dahinflössen. Unter den verschiedenartigsten
Substanzen und Stoffen, die alle in flüssige Form gebracht worden waren, befanden
sich solche, die ein Mensch für seine Nahrung und seine Körperkraft braucht,
und andere, die er für seine Arbeit benötigt. Die Kanäle verliefen geradlinig
nebeneinander, und in keiner Richtung war das Ende der Anlage abzusehen. Der
geringe Teil, den man überblicken konnte, ließ keinen Schluß auf die Anordnung
des Ganzen zu, so daß es den Anschein hatte, als herrsche eine willkürliche
Nachbarschaft unter den Flüssen. Einander unnahe Stoffe wie Knochenmark und
weißer Gummi, wie Tränen und Benzin, Wildbret und Tinte rannen Seite an Seite
durch die halben, nach oben offenen Betonröhren, und die anorganischen wechselten
mit den organischen, die raffinierten mit den rohen; doch Säfte waren sie alle.
Selbst Glas und Holz, selbst Dralon, Leder und Quarz hatten sich aus ihrer natürlichen
Beschaffenheit gelöst und erhielten sich in dieser strömenden Schmelze. Doch
konnten weder Hitze noch Hochdruck die spröden Stoffe derart verflüssigt haben,
sondern eine der üblichen Welt unbekannte chemische Berührung oder Einmischung
mußte hier wirksam gewesen sein. Aus den Bächen stieg gleichmäßig eine feuchte
und eher kühle Luft. »Das ist die große Reserve«, erklärte der Detektiv seiner
verwunderten Begleiterin, während sie auf eisernen Stegen und Gitterplatten
die bunten Bahnen überquerten, »sie gehört ebenfalls unserem Besitzer, den wir
auch kurz nur >den Deutschem nennen. Dort hinten, wo Sie gar nicht mehr hinblicken
können, sind auch jene Stoffe im flüssigen Zustand bewahrt, die oben, unter
freiem Himmel, nur als mehr oder weniger materielose bekannt sind, vornehmlich
die sogenannten geistigen Güter, Geschichte und Kunst, Magie und Technik und
manch anderes mehr. Es ist also kein Mangel, Sie sehen es selbst, und wenn oben
- oben in der Gesellschaft - einmal der eine oder andere Stoff zur Neige geht,
so kann er noch lange für Nachschub sorgen. Seiner Macht wird dann nichts
gleichkommen. Denn so gut wie alles, was man oben zu einem menschenwürdigen
Leben braucht, ist hier in Hülle und Fülle vorhanden, läuft um und wird frisch
gehalten.« - Botho Strauß, Der junge Mann. München 1984
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