BERLIN. An den Kanälen Auf den Bänken Sausende Lichter, Hinter der Brücke Auf dem Omnibus, im Dach, Ach, da fällt mir die alte Zeitungsfrau ein - An den Kanälen |
- Joachim Ringelnatz, nach: Gert und Gundel
Mattenklott, Berlin Transit. Eine Stadt als Station. Reinbek bei Hamburg 1987
Kanal (2) In gewissen Zeitabständen wurden Leichen aus dem Saint-Martin-Kanal gezogen, und fast immer kamen sie durch eine Schiffsschraube zum Vorschein. Meist war die Leiche ganz, und wenn es Männer waren, so handelte es sich um einen alten Vagabunden, der ein bißchen zuviel getrunken hatte und in den Kanal gefallen war, oder um einen zwielichtigen Burschen, der von einer rivalisierenden Bande mit einem Messerstich kaltgemacht worden war.
Zerstückelte Leichen waren keine Seltenheit. Durchschnittlich wurden alljährlich zwei oder drei gefunden; aber soweit sich Wachtmeister Depoil erinnerte, hatte es sich in solchen Fällen ausnahmslos um Frauen gehandelt. Man wußte sofort, wo man nachzuforschen hatte. In neun von zehn Fällen, wenn nicht noch öfter, handelte es sich um letztklassige Prostituierte, wie man sie nachts an zweideutigen Örtlichkeiten herumstreichen sieht.
»Lustmord«, hieß es dann im Rapport. - Georges Simenon, Maigret und der Kopflose. München 1972
(Heyne Simenon-Kriminalromane 13, zuerst 1955)
Kanal (3) Es will mich nicht dünken, dass ungeschlachte Menschen von niedrigen Sitten und kümmerlichem Geist einen so vollkommenen Organismus und einen derart komplizierten Mechanismus verdienen wie die kontemplativen und hochgeistigen Menschen. Die ersteren sind wie ein Sack, in den man Nahrung hineinstopft und aus dem sie unten wieder herauskommt. Sie sind mit einem Kanal zu vergleichen, der nur der Ernährung dient, denn nichts beweist mir, dass sie zur menschlichen Rasse gehören, einzig die Stimme und das Gesicht erinnern daran; was den Rest anbetrifft, sind sie viel eher den Tieren ähnlich.
Viele sind lediglich Kanäle, die einzig und allein der Nahrungsaufnahme
dienen, sonst nichts. Man müsste sie Düngerproduzenten nennen und Latrinenfüller,
denn das ist ihre einzige Aufgabe auf dieser Erde. Sie zeigen keinerlei
andere Tugend ... et caetera, et caetera, et caetera flüstert die
Schmeissfliege, während sie ihre Eier legt... und nur überfliessende Latrinen
werden von ihnen übrigbleiben. -
Lionardo, nach: Blaise Cendrars, Abhauen. Basel 1986
Kanal (4) Es ist, als hätten übermütige Baumeister
die Gewölbe aus Stein und Mörtel in die Luft gesprengt, die in allen anderen
Städten der Erde diese unreinen Gewässer zudecken, während hier die Bewohner
gezwungen sind, zu Schiff durch ihre eigenen Abwässer zu fahren. Und doch
sind einige dieser Kanäle, und gerade die engsten, von sehr eigenartigem
Reiz. Alte, wie vom Elend zerfressene Häuser spiegeln ihr verschossenes,
rußgeschwärztes Gemäuer in ihnen und tauchen ihre schmutzigen, rissigen
Füße hinein wie arme, zerlumpte Landstreicher, die sich in Bächen waschen.
Die steinernen Brücken spannen sich über dieses Wasser und werfen ihr Bild
daraus zurück, in zweifachem Bogen gerahmt, deren einer echt, der andere
falsch ist. Man hat von einer weiträumigen Stadt mit riesigen Palästen
.geträumt, so groß ist der Ruhm dieser alten Königin der Meere. Und nun
wundert man sich, weil alles klein ist, klein, so klein! Venedig
ist nicht mehr als ein Juwel, ein Stück alten, kostbaren Geschmeides, arm,
verwittert, doch voll edlen Stolzes im Bewußtsein alter Glorie. - (err)
Kanal (5) Ich komme an die Stelle, wo die
Binsen nach und nach lichter wurden und eine Landzunge sich in den Fluß vorschob,
gefährlich wegen des Schlammes und der Nähe des Kanals, denn im Traum wußte
ich, daß dies ein tiefer Kanal war, voller Strudel, und ich näherte mich, immer
wieder in dem gelben und vom Mond warmen Schlamm einsinkend, Schritt für Schritt
der Spitze. Und so stand ich am Rande, sah auf der anderen Seite die schwarzen
Zuckerrohrpflanzungen, wo sich das Wasser heimlich verlor, während hier, ganz
nahe, der Fluß verschlagen gestikulierte, als suche er, wo er sich anklammern
könnte, aber- und abermals abgleitend und von neuem darauf aus. Der ganze Kanal
war Mond, ein unendliches wirres Fließband von Messern, die mir in die Augen
schnitten, und darüber ein Himmel, der auf den Nacken und die Schultern drückte
und mich zwang, unablässig auf das Wasser zu blicken. Und als ich flußaufwärts
den Körper des Ertrunkenen sah, ganz langsam schaukelnd, wie um sich von den
Binsen am anderen Ufer zu befreien, erhielten diese Nacht und meine Gegenwart
darin erst ihren Sinn in jenem schwarzen Fleck, der abtrieb und sich, durch
einen Fußknöchel, eine Hand zurückgehalten, kaum drehte, sondern sanft schwankte,
den Binsen zu entkommen, bis er in die Strömung des Kanals gelangte und sich
wie im Takt dem nackten Ufer näherte, wo der Mond ihm voll ins Gesicht scheinen
würde. Du bist blaß, Mauricio. Nehmen wir noch einen Kognak, wenn du magst.
Auch Lucio war ein wenig blaß, als ich ihm den Traum erzählte. Er sagte lediglich:
»Wie du dich an die Details erinnerst.« Und im Unterschied zu dir, der höflich
wie immer ist, schien er dem, was ich ihm erzählen wollte, vorauszueilen, als
ob er fürchtete, daß ich den Rest des Traumes plötzlich vergessen hätte. Aber
noch fehlte etwas, ich hatte dir gesagt, daß die Strömung des Kanals den Körper
kreisen ließ, mit ihm spielte, ehe er ihn auf meine Seite herübertrug, und ich
wartete am Rande der Landzunge auf den Augenblick, in dem er fast zu meinen
Füßen vorüberschwimmen würde und ich in sein Gesicht sehen konnte. Neue Drehung,
ein Arm, so sanft gestreckt, als ob er noch schwimme, der Mond, der sich, auf
seiner Brust kniend, in seinen Bauch verbiß, in die bleichen Beine, abermals
den auf dem Rüvken schwimmenden Ertrunkenen
entblößend. Mir so nah, daß ich mich nur hätte niederkauern müssen, um ihn am
Haar zu packen, so nahe, daß ich ihn erkannte, Mauricio, in sein Gesicht sah
und schrie, glaube ich, etwas wie einen Schrei, der aus mir hervorbrach und
mich in das Erwachen stürzte, in den Krug Wasser, den ich hechelnd trank, in
das erschrockene und verwirrte Bewußtsein, daß ich mich nicht mehr an dieses
Gesicht erinnerte, das ich soeben erkannt hatte. -
Julio Cortázar, Die Nacht auf dem Rücken. Die Erzählungen Bd. 1. Frankfurt
am Main 1998
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