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 BERLIN. An den Kanälen

Auf den Bänken
An den Kanälen
Sitzen die Menschen,
Die sich verquälen.

Sausende Lichter,
Tausend Gesichter
Blitzen vorbei: Berlin.
Übers Gewässer
Nebelt Benzin . ..
Drunten wär's besser.

Hinter der Brücke
Flog eine Mücke
Ins Nasenloch.
Loch meiner Nase,
Nasenloch, niese doch
In die stille Straße!

Auf dem Omnibus, im Dach,
Rütteln meine Knochen,
Werden gute Worte wach,
Bleiben ungesprochen. -

Ach, da fällt mir die alte Zeitungsfrau ein -
Vanblix oder Blax soll sie heißen -
Die hat ein so seltsames Schütteln am Bein,
Daß alle Hunde sie beißen. -

An den Kanälen
Auf den dunklen Bänken
Sitzen die Menschen, die
Sich morgens ertränken.

 - Joachim Ringelnatz, nach: Gert und Gundel Mattenklott, Berlin Transit. Eine Stadt als Station. Reinbek bei Hamburg 1987

Kanal (2) In gewissen Zeitabständen wurden Leichen aus dem Saint-Martin-Kanal gezogen, und fast immer kamen sie durch eine Schiffsschraube zum Vorschein. Meist war die Leiche ganz, und wenn es Männer waren, so handelte es sich um einen alten Vagabunden, der ein bißchen zuviel getrunken hatte und in den Kanal gefallen war, oder um einen zwielichtigen Burschen, der von einer rivalisierenden Bande mit einem Messerstich kaltgemacht worden war.

Zerstückelte Leichen waren keine Seltenheit. Durchschnittlich wurden alljährlich zwei oder drei gefunden; aber soweit sich Wachtmeister Depoil erinnerte, hatte es sich in solchen Fällen ausnahmslos um Frauen gehandelt. Man wußte sofort, wo man nachzuforschen hatte. In neun von zehn Fällen, wenn nicht noch öfter, handelte es sich um letztklassige Prostituierte, wie man sie nachts an zweideutigen Örtlichkeiten herumstreichen sieht.

»Lustmord«, hieß es dann im Rapport. - Georges Simenon, Maigret und der Kopflose. München 1972 (Heyne Simenon-Kriminalromane 13, zuerst 1955)

Kanal (3) Es will mich nicht dünken, dass ungeschlachte Menschen von niedrigen Sitten und kümmerlichem Geist einen so vollkommenen Organismus und einen derart komplizierten Mechanismus verdienen wie die kontemplativen und hochgeistigen Menschen. Die ersteren sind wie ein Sack, in den man Nahrung hineinstopft und aus dem sie unten wieder herauskommt. Sie sind mit einem Kanal zu vergleichen, der nur der Ernährung dient, denn nichts beweist mir, dass sie zur menschlichen Rasse gehören, einzig die Stimme und das Gesicht erinnern daran; was den Rest anbetrifft, sind sie viel eher den Tieren ähnlich.

Viele sind lediglich Kanäle, die einzig und allein der Nahrungsaufnahme dienen, sonst nichts. Man müsste sie Düngerproduzenten nennen und Latrinenfüller, denn das ist ihre einzige Aufgabe auf dieser Erde. Sie zeigen keinerlei andere Tugend ... et caetera, et caetera, et caetera flüstert die Schmeissfliege, während sie ihre Eier legt... und nur überfliessende Latrinen werden von ihnen übrigbleiben.  - Lionardo, nach: Blaise Cendrars, Abhauen. Basel 1986

Kanal (4) Es ist, als hätten übermütige Baumeister die Gewölbe aus Stein und Mörtel in die Luft gesprengt, die in allen anderen Städten der Erde diese unreinen Gewässer zudecken, während hier die Bewohner gezwungen sind, zu Schiff durch ihre eigenen Abwässer zu fahren. Und doch sind einige dieser Kanäle, und gerade die engsten, von sehr eigenartigem Reiz. Alte, wie vom Elend zerfressene Häuser spiegeln ihr verschossenes, rußgeschwärztes Gemäuer in ihnen und tauchen ihre schmutzigen, rissigen Füße hinein wie arme, zerlumpte Landstreicher, die sich in Bächen waschen. Die steinernen Brücken spannen sich über dieses Wasser und werfen ihr Bild daraus zurück, in zweifachem Bogen gerahmt, deren einer echt, der andere falsch ist. Man hat von einer weiträumigen Stadt mit riesigen Palästen .geträumt, so groß ist der Ruhm dieser alten Königin der Meere. Und nun wundert man sich, weil alles klein ist, klein, so klein! Venedig ist nicht mehr als ein Juwel, ein Stück alten, kostbaren Geschmeides, arm, verwittert, doch voll edlen Stolzes im Bewußtsein alter Glorie. - (err)

 Kanal (5)  Ich komme an die Stelle, wo die Binsen nach und nach lichter wurden und eine Landzunge sich in den Fluß vorschob, gefährlich wegen des Schlammes und der Nähe des Kanals, denn im Traum wußte ich, daß dies ein tiefer Kanal war, voller Strudel, und ich näherte mich, immer wieder in dem gelben und vom Mond warmen Schlamm einsinkend, Schritt für Schritt der Spitze. Und so stand ich am Rande, sah auf der anderen Seite die schwarzen Zuckerrohrpflanzungen, wo sich das Wasser heimlich verlor, während hier, ganz nahe, der Fluß verschlagen gestikulierte, als suche er, wo er sich anklammern könnte, aber- und abermals abgleitend und von neuem darauf aus. Der ganze Kanal war Mond, ein unendliches wirres Fließband von Messern, die mir in die Augen schnitten, und darüber ein Himmel, der auf den Nacken und die Schultern drückte und mich zwang, unablässig auf das Wasser zu blicken. Und als ich flußaufwärts den Körper des Ertrunkenen sah, ganz langsam schaukelnd, wie um sich von den Binsen am anderen Ufer zu befreien, erhielten diese Nacht und meine Gegenwart darin erst ihren Sinn in jenem schwarzen Fleck, der abtrieb und sich, durch einen Fußknöchel, eine Hand zurückgehalten, kaum drehte, sondern sanft schwankte, den Binsen zu entkommen, bis er in die Strömung des Kanals gelangte und sich wie im Takt dem nackten Ufer näherte, wo der Mond ihm voll ins Gesicht scheinen würde. Du bist blaß, Mauricio. Nehmen wir noch einen Kognak, wenn du magst. Auch Lucio war ein wenig blaß, als ich ihm den Traum erzählte. Er sagte lediglich: »Wie du dich an die Details erinnerst.« Und im Unterschied zu dir, der höflich wie immer ist, schien er dem, was ich ihm erzählen wollte, vorauszueilen, als ob er fürchtete, daß ich den Rest des Traumes plötzlich vergessen hätte. Aber noch fehlte etwas, ich hatte dir gesagt, daß die Strömung des Kanals den Körper kreisen ließ, mit ihm spielte, ehe er ihn auf meine Seite herübertrug, und ich wartete am Rande der Landzunge auf den Augenblick, in dem er fast zu meinen Füßen vorüberschwimmen würde und ich in sein Gesicht sehen konnte. Neue Drehung, ein Arm, so sanft gestreckt, als ob er noch schwimme, der Mond, der sich, auf seiner Brust kniend, in seinen Bauch verbiß, in die bleichen Beine, abermals den auf dem Rüvken schwimmenden Ertrunkenen entblößend. Mir so nah, daß ich mich nur hätte niederkauern müssen, um ihn am Haar zu packen, so nahe, daß ich ihn erkannte, Mauricio, in sein Gesicht sah und schrie, glaube ich, etwas wie einen Schrei, der aus mir hervorbrach und mich in das Erwachen stürzte, in den Krug Wasser, den ich hechelnd trank, in das erschrockene und verwirrte Bewußtsein, daß ich mich nicht mehr an dieses Gesicht erinnerte, das ich soeben erkannt hatte. - Julio Cortázar, Die Nacht auf dem Rücken. Die Erzählungen Bd. 1. Frankfurt am Main 1998

 

Wasser Straße

 

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