alkutta Warum
nicht ein Gedicht über den Haufen Scheiße,
wie Gott ihn fallen ließ und Kalkutta nannte. Wie es wimmelt, stinkt, lebt und
immer mehr wird. Hätte Gott einen Haufen Beton geschissen, wäre Frankfurt rausgekommen.
Kalkuttas Flughafen heißt Dum Dum. Dort produziert noch immer die ehemals
britische Munitionsfabrik. Christliche Heuchler sagten den an der Spitze abgekniffenen
Dumdumgeschossen nach, sie rissen so große Löcher, daß es nicht zu den üblichen
Qualen, etwa bei Bauchschüssen, kommen könne. Im Gefängnis Dum Dum sitzen die
restlichen Naxaliten. In einem Gedicht über Kalkutta sollte Hoffnung nicht vorkommen.
Mit Eiter schreiben. Schorf kratzen . . . - (but)
Kalkutta
(2) Es ist eine unmögliche Stadt, eine Stadt, die es
nicht gibt, eine Allegorie, ein Labyrinth,
ein Alptraum, eine Offenbarung.
Diese Stadt, und vielleicht sie allein, ist schon bereit für das Jüngste
Gericht; vielleicht sind wir in Kalkutta, ohne es zu ahnen, schon hinter
den Kulissen, in der Garderobe des Weltuntergangs. Alle,
auch die Reiseführer, berichten von dem unerhörten Elend in Kalkutta; aber Elend
ist immer noch ein quantitativer Begriff: Wiederum bin ich fassungslos und geblendet,
da ich entdecke, daß in der indischen Welt Elend, Leiden, Krankheit, Mißgestalt,
Tod mit unseren Wörtern nur semantisch zusammenfallen. Freilich sieht man in
Kalkutta menschliche Wesen mit Wahlrecht, sie besitzen einen Lumpen - Kleid,
Decke oder Schweißtuch - und haben eine Schüssel für die Almosen, zum Essen
und als Kopfkissen. Jede Nacht schlafen sie auf den Bürgersteigen. Sie sterben
an Regen, Hunger, Wind, Kälte. Sie sterben schnell, ohne den Verkehr zu behindern.
Sie sind ans Sterben gewöhnt. Und trotzdem ist Kalkutta alles andere als eine
Totenstadt. Es wird belebt von einer zweideutigen Vitalität, die Verfall und
Geburt einschließt. Wer in diesen Stadtvierteln herumstreicht, sieht nacheinander
Reihen von Häusern, die von der tropischen Auszehrung angekränkelt sind, Mauern,
die einem Hang zum Pflanzlichen nachgeben; die ganze Stadt scheint bis in die
letzten Ecken mit ihrer Wiedergeburt als Dschungel
beschäftigt zu sein. Und diese Hütten, werden sie gebaut oder gesät? Diese Stadt
mit ihren baufälligen Gebäuden, ihren Elenden, ihren Toten, ihren Mißgeburten
ist bizarrerweise fröhlich: kein Galgenhumor, würde ich sagen, sondern eine
kindliche Fröhlichkeit; und die trägt die Wundmale der qualvollen Vergangenheiten,
aus deren Gewirr sie sich befreit hat. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, Kalkutta
zu kennen; diese Stadt, die so verschlungen ist wie ein Strang aus Adern, Gewächsen,
Schmarotzern und Blumen, kann man vielleicht nur in winzigen Sektoren, viel
kleineren als es ein Stadtviertel ist, kennenlernen. Eine Häusergruppe, ein
Tempel, die alten, verlassenen, hinreißenden Friedhöfe der Franzosen und der
Engländer aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Wie verzweifelt dort die Grabsteine
versuchen, den Schatten eines Toten festzuhalten in dieser irdischen Stadt,
die auch zur Unterwelt gehört, und wo nichts je einen
Namen gehabt hat. - Giorgio Manganelli,
Das indische Experiment. Berlin 2004 (zuerst 1992)
|
||
|
||