Jungfrau   Die Stimme nun klang hinter jenem Vorhang her; darum trat ich an den Vorhang heran und hob ihn, und dort zeigte sich vor meinem Blick eine vergoldete Zimmertür, deren Schönheit die Gedanken verwirrte. Ich trat durch jene Tür ein und erblickte ein Gemach, das einer Schatzkammer auf der Erdoberfläche glich; und darin befand sich eine Jungfrau, so schön wie der leuchtende Sonnenball mitten im klaren Weltenall. Sie war in die prächtigsten Gewänder gekleidet und mit dem kostbarsten Geschmeide geschmückt, das es nur geben konnte; dazu war sie herrlich an Schönheit und Lieblichkeit in des Wuchses Ebenmäßigkeit und an Anmut und Vollkommenheit. Ihr Leib war schlank und zart, schwer waren die Hüften gepaart; ihr Lippentau gab dem Kranken die Gesundheit wieder, müde träumten ihre Augenlider; und es war, als ob des Dichters Sang von ihr erklang:

Mein Gruß soll der Gestalt dort im Gewande gelten,
Den Rosen in der Wangen Gärten auch zumal.
Von ihrer Stirne hängen gleichsam die Plejaden,
Als Schnur auf ihrer Brust die andren Sterne all.
Wenn sie ein Kleid aus lauter zarten Rosen trüge,
Ein Rosenblatt von ihrem Leibe zöge Blut.
Und fiel ihr Lippentau ins Meer hinein, so schmeckte
Noch süßer als der Honig jene Salzesflut.
Und gab sie ihre Huld dem alten Mann am Stabe, -
Der Greis zerrisse Löwen bald in seinem Mut.

- (1001)

Jungfrau (2)

Jongleure setzen ihre Köpfe ab
Und schmeißen sie hell pfeifend in die Luft.
Die Knochen meckern, wenn mit lautem Klapp
Ein Kopf ins Universum sich verpufft.

... Jetzt Neger, die auf Dromedaren reiten.
Und nun tanzst du in deinem engen Rocke,
Der fixe Klöppel einer mächtgen Glocke,
Die laut zerlärmt die Zulukaffrigkeiten.

Du tanzst vorbei an zitternden Profilen
Verwirrter Antlitze, die dich beschielen.
Du tanzest aus - und gehst allein nach Haus.

Und während weiß sich dehnen deine Lippen,
Wird rot und zottig deinen Leib umwippen
Die Nacht wie eine Riesenfledermaus.

- Ernst Blass, nach: Dich süsse Sau nenn ich die Pest von Schmargendorf. Erotische Gedichte des Expressionismus. Hg. Hartmut Geerken. München 1985

Jungfrau (3)

Gedicht über eine beliebige Jungfrau

Die Jungfrau ist tätowiert: Generationen sind eingeschrieben
ihrem makellosen Bauch; denn sie bedeutet alles was künftig ist.
Mit Regenbogen sind ihr die Hände bemalt, die Arme mit
   babylonischen Türmen.

Der Leib der Jungfrau ist bemalt von Gottes Hand, denn sie ist der
   Ursprung det kommenden Welt.

Kein Zoll ihres Leibes ist ohne Entwurf und Plan für die Zukunft,
keine Pore ist ohne Zeichnung: deshalb ist sie schön.

Wir wollen die Jungfrau lesen, die Zukunft erraten; denn wohlgemerkt,
der Mensch ist kurzsichtig, aber die Zeichnung lügt nicht.

   Sehn Sie, in den Zeichen
sind Zeichen, Generationen verborgen in ändern Generationen.
Wer hat die Jungfrau bemalt? Das hat Gott getan am Tage des
   Sündenfalls.

Sehn Sie die Schlange, ihr einbeschrieben. Sehn Sie den Engel, ihr
   einbeschrieben.

Sehn sie das Kreuz,

ihr einbeschrieben. Meine Herren, treten Sie näher, der Eintritt ist frei. Sie sehen hier das Wunder der Wunder, meine Herren, ich werde Sie in die Mysterien einführen und die symbolischen Zeichen bis zum letzten Omega erklären. Treten Sie näher und bewundern Sie die fabelhafte Arbeit, eingraviert in den Leib der Jungfrau: die Geschichte der Welt, die bewohnte Stratosphäre, den Zauberer Tin-Ka-Lu auf der Reise zum Mond. Denn die Jungfrau ist wunderbar, es fehlt ihr nichts. Treten Sie näher, meine Herren, der Eintritt ist frei. Sie sehen hier abgebildet die Unschuld, die Lust, das Verbrechen, die Güte, und all diese unglaublichen Darstellungen sind der Jungfrau auf den Rük-ken, den Hals und ins Gesicht geschrieben. Ihre Tätowierung wird einen Aufruhr erregen. Die Stunde ist äußerst ernst, meine Herren. Große Revolten stehen bevor. Sie sehen auf der Jungfrau ein Meer, Sie sehen ferner die sieben Schöpfungstage, Sie sehen die Sintflut, Sie sehen den Tod. Treten Sie näher, meine Herren, der Eintritt ist frei.

Meine Herren, heute gibt es etwas zu sehen auf der Welt.
Wir wollen die Jungfrau sehen, die bemalte Jungfrau, bemalt von Gott.
Sie ist nackt und nicht nackt, ihre Zeichnung ist ihr Kleid.
Meine Herren, die Jungfrau wird sich vor Ihnen entblößen durch die
    Jahrtausende.

In ihrer Zeichnung sind Eingebungen, Gedichte, Geheimnisse.
Und deshalb ist unsere Schau einmalig! Und deshalb können Sie der
   Jungfrau nicht widerstehen!

Treten Sie näher, meine Herren!

- Jorge de Lima, nach (mus)

 

Frau Jungfrauschaft Vogel, seltener

 

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