ugendliebe    Sie war ein Mädchen, wie es deren damals noch welche gab: unter ihrem Kaschmir schlug noch ein Rest von Grisette; einmal bat sie mich um vier Sous, um den Bal Mabille zu besuchen.

Ich traf sie wieder: sie war noch dieselbe, mit den Augen, die ich geliebt habe, ihrem Naschen, ihren flachen und roten Lippen, die wie unter einem aufgedrückten Kuß platt gepreßt sind, mit ihrer geschmeidigen Taille, und doch ist es nicht mehr sie. Die hübsche kleine Hure ist bürgerlich geworden. Sie lebt brav wie in einer Ehe mit einem Photographen zusammen. Das häusliche Leben hat auf sie abgefärbt. Auf ihrer Stirn liegt der Schatten der Sparkasse. Sie pflegt die Wäsche, überwacht die Küche, schimpft mit einem Dienstmädchen wie eine legitime Ehefrau; sie lernt Englisch und Klavierspielen. Sie verkehrt nur noch mit verheirateten Frauen und denkt an die Zukunft, nämlich an die Heirat. Ihr Bohème-Leben hat sie in einem Spiegelschrank beerdigt.

Ihr Mann heißt Thompson, ist ein Engländer aus Amerika, der nur der Gesundheit wegen vögelt; er liebt, wie man ein Abführmittel nimmt. Er hat Hämorrhoiden, für die sie sich interessiert.   - (gon)

Jugendliebe (2)  Sie ist also einmal die Geliebte von einem berühmten Philosophen gewesen, das war wie Urlaub feiern in einem nie ausgeputzten Stall. Zu zweit auf Schuhen in den Wienerwald spazieren! Auch sein Gesicht ist jetzt tot, diese Auslage von einem verstaubten Geschäft. Alle Waren sind längst ausgelaufen. Das Verfalldatum ist überschritten. Seine stählernden Gedanken haben sie damals rasch in den geistigen Konkurs getrieben, bevor sie noch anfangen konnte, einen guten Ein-fall aus ihrer Haube zu scheuchen. Ihn kennt heute zum Unterschied von ihr wirklich jeder! Daher wünscht sie sich hartnäckig, daß jeder Jederling endlich auch sie kennen möge. Sie war damals jünger, der Philosoph alt. So geht es also zu zwischen Mann & Frau ein einziges unverständliches Geheimnis innerhalb der Bürokratie. Beide werden sie mehrmals in ihrem Leben in ihr Gegenteil verkehrt. Nie bilden sie gemeinsam ein Plateau oder wenigstens eine Rinne neben der Straße. Seine Gedanken stehen in Büchern aufbewahrt. Was hat sie heute noch davon, daß sie damals jünger war? Der Unterschied ist vollkommen geschrumpft. Sie steht ihrerseits in keinem Buch, nur in einem Glashaus, aus dem sie nichts Hartes hinauswerfen darf (Achtung bei Biographieverzier!). Wo ist heutzutage der schöne Jugendkörper für sie, um den sie in ihrer Jugend betrogen wurde, weil sie den Geist, dieses Gespenst, gewählt hat?  - Elfriede Jelinek, Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr. Reinbek bei Hamburg 1998
 

Mädchen Liebe Wiedersehen 

 

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