ugend, katholische   Mir hatten Heilige von Sanct Marinas Art früher nicht so arg imponiert. Ich zog die Geschichte des Sebastian vor, der mit Pfeilen beschossen wurde, daß er bespickt war wie ein Igel, und der doch schon am nächsten Tag wieder heil vor dem Kaiser erschien. Das las ich viel lieber als etwa die sanfte Biographie des frommen Nikolaus, der seinem Nachbarn nachts Goldklumpen in den Garten warf, am Morgen zu früh in die Kirche kam und deshalb Bischof wurde und schließlich eines süßen Todes verstarb, um in einem Grab aus Marmelstein unangefochtene ewige Ruhe zu finden. Da waren doch die Qualen des Hauptmanns Longinus, dem die Heiden die Zähne mit Bleikugeln einschlugen und ihm die Zunge herausschnitten, eine tiefere, wenn auch traurige Ergötzung. Und welch ein Triumph, wenn er dann ohne Zunge zu sprechen begann! Welcher war das bloß, dem sie heißes Pech und siedendes öl und glühend flüssiges Blei in den Mund gossen, und er hat doch gesungen? Am Ende blieb den armen Heiden dann meistens bloß noch das Schwert, Kopf ab, und selbst dann konnte noch plötzlich etwas ganz Wunderbares geschehen. Die erste Frau, von der ich geträumt hatte, war natürlich auch eine Heilige gewesen. Sanct Maria Aegyptiaca, die mit zwölf Jahren in die von böser Weisheit und schönem Laster glühende Stadt Alexandria kam, in eine Stadt, in der alle Füße nackt und alle Köpfe verhüllt waren. Siebzehn Jahre lang hatte sich die Ägypterin ein schlimmes Leben erlaubt, bis sie dann mit einem Pilgerschiff ins Heilige Land fuhr. Das Fährgeld allerdings bezahlte sie noch mit ihrem Leib, denn sie hatte offensichtlich nichts erspart. Dann aber lebte sie siebenundvierzig Jahre von drei Broten in der Wüste jenseits des Jordans, und es hat mir einen tiefen Eindruck gemacht und mich auch mit schlimmen Vorahnungen erfüllt, daß sie dem Abt Zosima erzählte, siebzehn Jahre sei sie in der Wüste noch von fleischlicher Anfechtung gepeinigt worden. Siebzehn Jahre.    - Martin Walser, Halbzeit. München 1971 (zuerst 1960)