ournalismus   Er wußte, daß unter der Wirkung des Kokains die zusammengerollten Gedanken sich öffnen, sich entfalten, sich ausbreiten, wie trockene Teeblätter unter kochendem Wasser.

Er schnupfte. Schrieb.

Er schrieb, eine Seite, zwei, drei, ohne Unterbrechung, ohne zu zögern, ohne zu verbessern, ohne sich ablenken zu lassen. Seine Phantasie sah grauenvolle Szenen: alte Reminiszenzen aus Berichten von Hinrichtungen vermischten sich mit ironischen und mitleidigen Kommentaren; die unheilvolle Klinge des furchtbaren Geräts, die in dem fahlen und regnerischen Morgen funkelt; die wenigen Vorüberkommenden, die stehenbleiben, um die Vorbereitungsarbeit des Henkers und seiner Gehilfen zu beobachten; der graue Kerker, feierlich angesichts des Todes; die Soldaten der republikanischen Garde, die das tragische Quadrat um den Richtplatz bilden.

Als die sieben schwarzgekleideten Herren in die Zelle treten, liegt Amphossy in tiefem Schlaf. Bis zum vorhergehenden Abend hat er noch an eine Begnadigung geglaubt. Der Anblick jener Herren in Gehrock und Zylinder läßt ihm keine Hoffnung mehr.

«Marius Amphossy», deklamiert einer der Herren in Schwarz, «seien Sie mutig! Die Bitte um Begnadigung ist zurückgewiesen worden. Die Stunde, Ihre Schuld zu büßen, hat geschlagen. Seien Sie stark.»

«Ich werde stark sein», antwortet mit höhnischem Lachen der zynische Sträfling.

Hinter dem Staatsanwalt der Republik stehen der Gefängnisdirektor und der Verteidiger.

Die anderen Herren vermögen ihre tiefe Bewegung nicht zu unterdrücken. Dumpf ertönen vier Schläge von der Gefängnisuhr.

Der Herr, der vorher gesprochen hat, verliest eine Verfügung. Sobald er geendet hat, nehmen die beiden Henkersknechte den Verurteilten in ihre Mitte. Die anderen Herren machen Platz und stellen sich rechts und links zu beiden Seiten auf.

Marius Amphossy geht mit festem und sicherem Schritt. Mit ironischem Lächeln blickt er auf uns Journalisten, die wir den tragischen Vorgang von einem dunklen Winkel des kalten geräumigen Korridors aus, an dem die Zellen liegen, beobachten; durch das Guckloch jeder Tür starren wie magnetisiert zwei entsetzte Augen - auch Verurteilte oder Unglückliche, die das gleiche Urteil erwarten?

Der Henker eröffnet den Zug durch den langen und geradlinigen Korridor. Hinter ihm der Verbrecher und die beiden Gehilfen.

Dann der Verteidiger, der Gefängnisdirektor, die anderen Beamten, die Journalisten.

Wir steigen einige Stufen hinunter, gehen durch einen gedeckten Gang. In dem tiefen Grabesschweigen hallt das Echo unserer Schritte.

Wir treten in einen Saal.

Ein Priester mit dem Kruzifix in der Hand, auf einem Tischchen Champagnerflaschen und Liköre.

Der Priester umarmt den Delinquenten, während ein Gefängniswärter ihm Champagner einschenkt.

Der Verurteilte bittet um eine Zigarette. Es wird ihm eine angezündet und gereicht.

Die beiden Gehilfen schneiden den Hemdkragen ab und scheren ihm die Haare im Nacken; dann packen sie ihn bei den Armen und binden sie ihm auf dem Rücken fest.

Der Zug setzt sich in Bewegung.

Plötzlich hat Amphossy beim Hinuntersteigen der Treppen einen Augenblick der Unsicherheit; die Beine versagen ihm den Dienst, und er wäre hingestürzt, wenn die Gehilfen ihm nicht sofort beigesprungen wären, ihn gehalten und unter den Armen gestützt hätten.

Zahllose Fensteraugen blicken im Gefängnishof auf den grauenvollen Zug. Wir durchschreiten den Hof.

Außerhalb der Tür wartet in der eisigen Morgenluft ein mit zwei Schimmeln bespannter Karren. Es ist der panier ä salade. Man legt eine Treppenleiter an. Der Todgeweihte besteigt mit dem Henker, den beiden Gehilfen und dem Rechtsanwalt das Gefährt.

Hundert Meter weiter erwartet das furchtbare Gerüst sein Opfer. Die Pferde gehen in leichtem Trott, mit ahnungsloser Gleichgültigkeit, wie sie eine Braut geleiten würden.

Ein Ruck: der Karren hält an. Die beiden Gehilfen öffnen die Türen, lassen die Trittleiter herunter. Der Henker springt aus dem Wagen, Marius Amphossy steigt voller Entsetzen aus. Sein Anwalt bleibt unbeweglich, versteinert sitzen, als ob er nicht imstande wäre, seinen Platz zu verlassen.

Die Henkersknechte haben den Unglücklichen unter den Armen gepackt und tragen ihn; als sie um den Wagen herumkommen, sieht er einen großen leeren Platz; ringsherum blitzen Waffen und Uniformen; die Soldaten der republikanischen Garde ziehen die Säbel aus der Scheide. Die Bürger nehmen den Hut ab.

Der Verurteilte ist von geisterhafter Blässe. Der in wahnsinniger Angst verzerrte Mund scheint die Menschen, den heraufdämmernden Tag, das Leben, von dem er sich umgeben sieht, vergeblich um Erbarmen zu flehen.

Aber sieht der Unglückliche überhaupt noch etwas? Nein, nein, seine Augen sehen nichts mehr, obwohl sie unbeweglich auf jene dunkle Maschine starren, die zwischen dem Laub der Boulevardbäume emporragt; ein hoher und schlanker Bau; drei Balken, zwei senkrechte und ein Querbalken.

Zwei Schweißtropfen rinnen ihm längs der Schläfen die Wangen herunter; das Kinn ist mit Schweißperlen bedeckt; er macht den Mund weit auf, wie um zu schreien, aber kein Laut wird hörbar.

Er ist am Ende des Schafotts angelangt. Sein Leben zählt nur noch nach Sekunden; auf dem großen Platz kein Laut, nicht das Rascheln eines fallenden Blattes, kein Flügelrauschen; selbst der feine Sprühregen scheint schweigsamer, andächtiger zu fallen.

Ohne die Beine zu bewegen, steigt er hinauf; der Tod scheint ihn schon in seinen Krallen zu haben, ihn hochzuheben über die anderen Menschen; in der Tat schreitet er nicht mehr. Die Füße, schon erstorben, schleifen auf dem Boden, wie jene Blechschachteln, die die Straßenkinder an einem Bindfaden hinter sich herziehen. Die auf den Rücken gebundenen Hände zucken krampfhaft; die Brust dehnt sich bis zum Zerplatzen; der Hals schwillt an.

Das Fallbeil blitzt auf; eine runde Öffnung wird sichtbar, bereit, sich noch weiter zu öffnen, um den Kopf hindurchzulassen und sich dann fest auf dem Hals zu schließen. Jenseits der Korb, der binnen weniger Sekunden den Kopf des Mörders aufnehmen wird.

Er macht eine krampfhafte Anstrengung, bei dem grauenerregenden Anblick der Guillotine zurückzuweichen. Aber zurücktreten kann er nicht, er biegt den Oberkörper rückwärts, stemmt den Kopf, als gelte es Gott weiß welche Stütze zu entfernen: in der Luft zittert ein grausames Entsetzen.

Aber entschlossen drücken die Henkersknechte den Kopf gewaltsam nach unten und stellen ihm ein Bein, so daß er wie leblos auf die Bascule fällt. Der Henker steckt ihm den Kopf in die halbbogenförmige Öffnung; der Kreis schließt sich und preßt ihn unerbittlich mit eiserner Hand.

Es folgt der Augenblick, jener furchtbare Augenblick; ein endloser Augenblick. Der auf das Fallbrett geworfene Mann, die Hände auf den Rücken geschnallt und den Kopf unbeweglich wie in einer Zange eingeklemmt, erblickt den Korb, der sich vor seinen entsetzten Augen wie ein Sarg öffnet.

Ein kurzer Schlag. Ein dumpfer Fall. Der Kopf kollert herunter, eine halbkreisförmige Blutwelle hinter sich herziehend.

Die Gerechtigkeit hat ihren Lauf genommen.

Uns Journalisten ist es gestattet, näher zu treten. Der Körper wird in einen Sarg aus Tannenholz gelegt; die Augen im Kopf stehen noch offen, die herausgestreckte Zunge bewegt sich unmerklich, und grünlicher Schaum tritt aus dem Mund. Auch der von einem Gehilfen bei den Haaren gehaltene Kopf wird in den Sarg gezwängt und dieser auf einem Lastauto in eines der physiologischen Institute gebracht.

Der Platz liebt nun im Morgensonnenlicht; die republikanische Garde zieht ab, während der Henker und seine Knechte das grausige Gerüst abbauen.

Im physiologischen Institut, wohin wir uns wenige Minuten nach der Exekution begeben haben, versichert man uns, daß das Herz noch pulsierte, und daß in der Netzhaut zweifellos noch Lebenszeichen bemerkt wurden. Oh, erbarmungslose menschliche Gesetze, oh, ihr Rechtsgelehrten, vielleicht daß...

Aber Tito Arnaudis Artikel füllte noch keine zwei Spalten: so erging er sich noch in langen tolstoianischen Erörterungen über das Recht, Urteil zu sprechen, über die Gewalt über Tod und Leben; und als auch dies noch nicht genügte, stellte er seinem Bericht einige Auslassungen über die Guillotine voran.

Er erinnerte an die letzten Worte des fettleibigen und raubgierigen Ludwig XVI., der ausrief: «Français, je meurs innocent de tout»; er erinnerte an Marie Antoinette, deren Haar über Nacht weiß geworden, die, als sie unversehens den Henker angestoßen, liebenswürdig zu ihm sagte. «Pardon, Monsieur!» Er erwähnte Elisabeth, die Schwester Ludwigs XVI., die, als sie schon mit entblößten Schultern umgestürzt unter dem Fallbeil lag, schamhaft flehte, sie zu bedecken; er beschwor den alten Bailly herauf, dem die Zähne im Novemberregen klapperten. «Du zitterst!» sagte jemand zu ihm. «Das macht die Kälte», antwortete er. Er erwähnte noch Charlotte Corday, die gleichfalls vor Scham errötete wegen des entblößten Oberkörpers; Danton («Du wirst meinen Kopf dem Volke zeigen, es ist dessen würdig»); Desmoulins, der den Henker beauftragte, seiner Mutter eine Locke seines Haars zu überbringen; Adam Lux, der Charlotte Corday küßte, bevor er starb; Jourdan Coupe-Tête, der das Gerüst bestieg mit einem Fliederzweig zwischen den Lippen...

Aber da die zwei vorgeschriebenen Spalten noch immer nicht gefüllt waren, griff er noch einmal zurück auf die Geschichte des Verbrechers Marius Amphossy, des grausigen Gouvernantenmörders aus Jamaika.

Er sprach von Jamaika und seinem Rum; er erklärte, weshalb die Regierung nicht der Auslieferung zustimmte, trotz des internationalen Rechts...

Er beschäftigte sich des längeren mit den Lücken des internationalen Rechts. Er schilderte die Person des Henkers, beschrieb ein kurzes Interview mit dieser unheimlichen Persönlichkeit, eines letztlich guten Menschen; aber die Zeiten seien hart, alles sei teuer, und man müsse doch leben... Er erläuterte die Konstruktion der Guillotine und fügte einige eindrucksvolle Bemerkungen über den Seelenzustand des Verurteilten hinzu. Er erzählte, wie es ihm durch eine geschickte Kriegslist als einzigem der Pariser Journalisten gelungen sei, wenige Stunden vor der Enthauptung in die Zelle Zutritt zu erlangen.

«Aber weshalb ermordeten Sie alle diese Gouvernanten?» fragte ich den Mörder.

«Ich mochte sie nicht», erwiderte er lächelnd mit der größten Natürlichkeit.  - Pitigrilli, Kokain. Reinbek bei Hamburg 1988 (rororo 12225, zuerst 1922)

Jounalismus (2)  Meine Freunde nennen mich Dum, sagte Mr. Spiro, weil ich so munter und vergnügt bin. D-U-M. Anagramm von Mud. Mr. Spiro hatte getrunken, aber nicht mehr, als gut für ihn war.

Ich gebe Crux, die weitverbreitete katholische Monatszeitschrift heraus, sagte Mr. Spiro. Wir zahlen unseren Mitarbeitern keine Honorare, aber sie haben andere Vergünstigungen. Unsere Anzeigen sind etwas ganz Besonderes. Wir halten unsere Tonsur über Wasser. Unsere Preisausschreiben sind reizvoll. Schwere Zeiten, Wasser in jedem Wein. Unsere Preisausschreiben mit frommem Anstrich fördern eher das Gute, als daß sie schaden. Zum Beispiel: Ordnen Sie die fünfzehn Buchstaben der Heiligen Familie so an, daß eine Frage und eine Antwort entstehen. Richtige Lösung: Muss Freia Joes? Ja. Oder: Was wissen Sie über die Beschwörung, die Exkommunikation, die Verfluchung und die niederschmetternde Anathematisierung der Aale von Como, der Hureber von Beaune, der Ratten von Lyon, der Schnecken von Macon, der Würmer von Como, der Blutsauger von Lausanne und der Raupen von Valence? - (wat)

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