nstinkt
Ein matter Schatten überholte ihn, er ahnte einen
gegen sich erhobenen Arm, bewaffnet oder nicht, und gedankenschnell wirbelte
er auf den Absätzen herum. Im nächsten Moment war er erstaunt, wie prachtvoll
seine Instinkte noch funktionierten. Automatisch flog ihm die Linke aus der
Hüfte, übercrosste den drohend erhobenen Arm und knallte trocken auf einen Kinnwinkel,
den er noch gar nicht recht im Auge gehabt hatte. Das hätte scheinbar schon
gereicht, doch mit der Rechten, unterstützt durch einen leichten Kniefall, traf
er den anderen gleich darauf in der Körpermitte, er spürte den Hornknopf einer
leger geschlossenen Jacke, welcher der genaue Zielpunkt war, und mit dem restlichen
Schwung zog er die Rechte nach oben, dicht am Körper des anderen, der Knopf
flog ab, und die Jacke sprang auf, und dieser Aufwärtshaken hebelte den Kerl
aus. Und indem er mit einem kleinen Step wieder auf beide Füße pendelte, traf
er mit einem zweiten linken Cross den ungedeckten Kopf noch einmal voll; das
erledigte den Typ, er brach auseinander.
Mit einem Ächzen fiel der Kerl auf das Geländer, über dem er sich wie eine Schere schloß, dann wippte er zurück, setzte sich polternd auf die Treppe, wo er, ehe er auf dem Bauch liegenblieb, eine wenig elegante Rolle rückwärts vollführte und dabei eine Stehlampe umriß, die sofort erlosch. Dennoch war in dem Halbdunkel zu sehen, daß der Figur Stücke von zerbrochenen Gliedmaßen aus den Jackenärmeln rutschten, ihr Gesicht, das ins Genick gedreht war, zeigte ein vorwurfsvolles Grinsen. Durch die Staubwolke hindurch waren mehrere schrille Schreie von unten aus dem Verkaufsraum der Boutique zu hören.
C. stieg, indem er sich den Gipsstaub abklopfte, über die zerstörte Schaufensterpuppe,
von der er sich überfallen gefühlt hatte, hinweg und entfernte sich, das Durcheinander
in seinem Rücken nicht achtend, und mit beschleunigten, aber gelassenen Schritten
trat er wieder in die helle Nachmittagssonne auf der Breiten Gasse hinaus. Er
schüttelte den Kopf und sah sich nervös nach allen Seiten um; dabei verschluckte
er etwas wie ein merkwürdig schlechtes Gewissen: zweifellos war sein Gegenangriff
viel zu massiert gewesen, wahrscheinlich hätte eine der beiden Doubletten schon
ausgereicht. - Wolfgang Hilbig, Das Provisorium. Frankfurt am Main 2001
(Fischer-Tb. 15099, zuerst: 2000)
Instinkt (2) Infolge ihrer Trägheit und Enthaltsamkeit
gestaltet sich die Fütterung einer Puffotter zu einem ungemein aufregenden Schauspiele.
Das Kaninchen oder Meerschweinchen, welches der Schlange gereicht wird, hat
von der ihm drohenden Gefahr keine Ahnung. Sein sogenannter "Instinkt"
läßt es jetzt unverantwortlicherweise vollständig im Stich. Es nähert sich neugierig
der Schlange. Niemals hat es eine solche gesehen, seine Neugier ist daher
erklärlich und zu entschuldigen. Es beschnuppert seinen Feind, denn noch weiß
es nicht, daß es mit einem solchen zu tun hat. . Die Schlange erhebt den dreieckigen
Kopf, beugt den Hals zurück, nimmt eine schauerlich schöne Angriffsstellung
an: das Kaninchen merkt noch nichts, schnuppert wiederum, erschnupert nichts,
wird dreister und nähert sich dem Schlangenkopfe. Die Puffotter züngelt tastend;
ihre Zunge und die Schnurrhaare des Kaninchens berühren sich. Letzteres, ein
Bild der Arglosigkeit, steht noch immer ahnungslos vor dem entsetzlichen Räuber,
durch dessen Gebaren augenscheinlich gefesselt, gleichsam verwundert, ein solches
Wesen betrachten zu können. Die Schlange bekundet mehr und mehr sich steigernde
Erregung, atmet in tiefen Zügen, so daß der Leib sich hebt und senkt, erweitertund
verengert; sie faucht zwar nicht eigentlich, aber sie schnauft hörbar genug
für das Kaninchen, gleichsam, als ob sie dieses warnen wolle; aber auch solche
Drohung ist vergeblich: der Nager achtet ihrer nicht. Die Schlange läßt das
Haupt wieder sinken, um eine andere Stellung einzunehmen, ihre Rippen stemmen
sich gegen den Boden, hunderte von Fußpaaren arbeiten, sie gleitet langsam dahin;
das Kaninchen wird stutzig, springt zur Seite, richtet die Augen scharf auf
den ihm unbekannten Gegenstand, spitzt die Ohren und stellt sie nach vorn schnuppernd,
dreht die Schnurrharre nach allen Richtungen und - beruhigt sich wieder. Von
nuem liegt die Schlange regungslos, von neuem nähert sie sich dem neugierigen
Opfer, von neuem erhebt sie angriffslustig das Haupt, züngelt, droht, und nochmals
verläuft die Bewegung wie früher. der Nager hat das Wasserbecken gefunden und
getrunken, streckt sich sodann auf dem warmen Sande aus, frißt auch wohl ein
wenig von der ihm zugeworfenen Rübe. Es scheint ihm in dem Käfige zu gefallen;
er wird übermütig, springt auf und nieder über die Schlange weg, ihr auf den
Rücken. Sie ihrerseits, entrüstetüber die Dreistigkeit, schnellt wütend auf
und faucht mit voller Lunge. Das Kaninchen stutzt wiederum, setzt alle Sinneswerkzeuge
in Bewegung, kommt noch immer nicht zur Erkenntnis und beginnt nochmals seine
gefährlichen Untersuchungen. So kann es stundenlang währen, und je länger es
dauert, um so dreister wird das Kaninchen, um so lebhafter die Schlange. Endlich
aber hat sich letztere besonnen, daß sie hungrig ist. und kriecht entschieden
auf das Opfer zu. Das Kaninchen erwartet sie wie früher, geht iht entgegen.
- (
brehm
)
Instinkt (3) Merkwürdig ist es, daß die meisten Tiere
wissen, warum sie angegriffen werden, aber auch, wogegen
sie sich überhaupt zu hüten haben. Der Elefant soll,
wenn er einem Menschen begegnet, der einzeln in der
Einsamkeit umherirret, milde und zutraulich gegen
ihn sein und ihm sogar den Weg zeigen. Bemerkt er die Spur des Menschen, bevor
er ihn sieht, so soll er aus Furcht vor Nachstellung zittern, nachdem er ihn
gewittert, stillstehen, um sich schauen, vor Zorn schnauben, nicht auf dessen
Fußstapfen treten, sondern etwas Erde davon herausscharren und dem zunächst
hinter ihm Befindlichen geben. Dieser reicht sie seinem Nachbar und so weiter,
bis sie an den letzten kommt, dann wendet sich der ganze Haufe um und stellt
sich in Schlachtordnung. So anhaltend ist der Geruch,
daß sie ihn alle wahrnehmen, obgleich diese Fußstapfen größtenteils nicht einmal
von nackten Füßen herrühren. So soll auch der Tiger,
der doch gegen alle übrigen Tiere wütet und selbst die Spur des Elefanten verachtet,
beim Anblick eines menschlichen Fußstapfens seine Jungen wegtragen. Aber auf
welche Weise hat er Kenntnis davon bekommen? Wo hat er vorher den gesehen, welchen
er fürchtet? Denn solche Wälder, wo diese Tiere sich aufhalten, werden niemals
von Menschen besucht. Wohl mag ihnen ein so seltener Fußtritt auffallen, allein
wissen sie, daß er zu fürchten ist? Warum zittern sie sogar bei dem Anblicke
des Menschen, da sie diesen doch an Kraft, Größe und Schnelligkeit weit übertreffen?
Aber darin zeigt sich gerade die Einrichtung der Natur und ihre Macht, daß selbst
die wildesten und größten Tiere, das, was sie fürchten müssen, niemals gesehen
zu haben brauchen und doch gleich wissen, daß sie sich davor in acht zu nehmen
haben.
- (
pli
)
Instinkt (4) Zur Erläuterung erwähne ich noch, als ein
anderes, wiewohl schwächeres Beispiel vom Instinkt
im Menschen, den kapriziösen Appetit der Schwangeren: er scheint daraus zu entspringen,
daß die Ernährung des Embryo bisweilen eine besondere oder bestimmte Modifikation
des ihm zufließenden Blutes verlangt; worauf die solche bewirkende Speise sich
sofort der Schwangeren als Gegenstand heißer Sehnsucht
darstellt, also auch hier ein Wahn entsteht. Demnach
hat das Weib einen Instinkt mehr als der Mann: auch ist das Gangliensystem beim
Weibe viel entwickelter. - Aus dem großen Uebergewicht des Gehirns
beim Menschen erklärt sich, daß er wenigere Instinkte hat, als die Thiere, und
daß selbst diese wenigen leicht irre geleitet werden können. Nämlich der die
Auswahl zur Geschlechtsbefriedigung instinktiv leitende Schönheitssinn wird
irre geführt, wenn er in Hang zur Päderastie ausartet; Dem analog,
wie die Schmeißfliege (Musca vomitoria), statt ihre Eier,
ihrem Instinkt gemäß, in faulendes Fleisch zu legen,
sie in die Blüthe des Arum dracunculus [Aronsstab] legt, verleitet durch den
kadaverosen [Leichen-]Geruch
dieser Pflanze. - (
wv
)
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