nspiration  Es geschah zu Beginn der Nacht, da jedermann den letzten Schein des Lagerfeuers nutzt, um sich auf den Schlaf vorzubereiten. Der Häuptling Taperahi lag bereits in seiner Hängematte, als er mit ferner und zögernder Stimme, die ihm kaum zu gehören schien, zu singen begann. Augenblicklich kamen zwei Männer herbei (Walera und Kamini) und kauerten sich zu seinen Füßen, während ein Schauer der Erregung die kleine Gruppe ergriff. Walera rief etwas und der Gesang des Häuptlings wurde deutlicher, seine Stimme fester. Und mit einem Mal verstand ich, was vor sich ging: Taperahi war im Begriff, ein Theaterstück oder, genauer, eine Operette zu spielen, in der sich Gesang und gesprochenes Wort vermischten. Er allein verkörperte ein Dutzend Personen. Und jede von ihnen unterschied sich durch einen bestimmten Ton der Stimme - kreischend, im Falsett, guttural, dröhnend - sowie durch ein musikalisches Thema, das ein wirkliches Leitmotiv bildete. Die Melodien ähnelten in erstaunlicher Weise dem Gregorianischen Gesang. Nach dem Sacré der Nambikwara-Flöten glaubte ich nun eine exotische Version der Noces zu vernehmen.

Mit Hilfe von Abaitara, der von der Darbietung so gefesselt war, daß ich ihm nur mit Mühe einige Erklärungen abringen konnte, gelang es mir, eine ungefähre Vorstellung von ihrem Inhalt zu bekommen. Es handelte sich um eine Farce, deren Held der japim-Vogel war (ein Pirol mit gelben und schwarzen Federn, dessen modulierter Gesang der menschlichen Stimme täuschend ähnlich ist); seine Partner waren Tiere: Schildkröte, Jaguar, Falke, Ameisenbär, Tapir, Eidechse usw. sowie Gegenstände: Stock, Stößel, Bogen; schließlich Geister wie das Gespenst Maira. Jedes dieser Wesen drückte sich in einem Stil aus, der seiner Natur so genau entsprach, daß ich sie bald allein identifizieren konnte. Die Geschichte handelte von den Abenteuern des japim, der zunächst von den anderen Tieren bedroht wird, diese aber auf die verschiedenste Weise hinters Licht führt und schließlich ihrer Herr wird. Die Darbietung, die zwei Nächte lang wiederholt (oder fortgesetzt?) wurde, dauerte jedesmal etwa vier Stunden. Zuweilen schien Taperahi geradezu inspiriert zu sein, dann sprach und sang er in einem fort: von allen Seiten erklang schallendes Gelächter. Andere Male aber schien er erschöpft zu sein, seine Stimme wurde schwächer, er schlug verschiedene Themen an, ohne bei einem zu verweilen. Dann kam ihm einer der Rezitierenden oder beide zusammen zu Hilfe, indem sie entweder ihre Rufe wiederholten, was dem Hauptdarsteller eine Ruhepause verschaffte, oder ihm ein musikalisches Thema vorschlugen oder sogar zeitweilig eine der Rollen übernahmen, so daß für einige Augenblicke ein richtiger Dialog entstand. Und wenn Taperahi auf diese Weise wieder fest im Sattel saß, begann er mit einer neuen Episode.

In dem Maße, in dem die Nacht fortschritt, bemerkte man, daß diese poetische Schöpfung mit einem Bewußtseinsschwund einherging und der Schauspieler von seinen Personen überwältigt wurde. Ihre verschiedenen Stimmen wurden ihm fremd, jede von ihnen hatte eine so besondere Ausprägung, daß es schwerfiel zu glauben, sie gehörten ein und demselben Individuum an. Gegen Ende der zweiten Vorstellung erhob sich Taperahi, immer noch singend, aus seiner Hängematte und begann, ziellos herumzulaufen und nach Cahouin zu verlangen; er war »vom Geist ergriffen« worden; plötzlich packte er ein Messer und stürzte sich auf Kunhatsin, seine Hauptfrau, die ihm nur mit knapper Not entrinnen und sich in den Wald retten konnte, während die anderen Männer ihn überwältigten und ihn zwangen, sich wieder in seine Hängematte zu legen, wo er augenblicklich einschlief. Am anderen Morgen ging alles seinen gewohnten Gang. - (str2)

Inspiration (2) Die Inspiration, die den Entwurf einer Schachaufgabe begleitet, ist von quasimusikalischer, quasipoetischer oder, um ganz genau zu sein, von poetisch-mathematischer Art. Häufig spürte ich in einem günstigen Augenblick mitten am Tag, am Rande irgendeiner trivialen Beschäftigung, im müßigen Gefolge eines flüchtigen Gedankens, wie ich vor lebhaftem geistigem Vergnügen zusammenzuckte, während sich unversehens die Knospe eines Schachproblems in meinem Kopf öffnete und mir eine Nacht der Mühsal und Glückseligkeit versprach. Vielleicht war es eine neue Art und Weise, einen ungewöhnlichen strategischen Kunstgriff mit einer ungewöhnlichen Verteidigung zu kombinieren; vielleicht war es ein seltsam stilisierter und darum unvollständiger Eindruck von der tatsächlichen Figurenstellung, die endlich und mit Humor und Anmut einen schwierigen Grundgedanken ausdrücken würde, an dem ich vorher gescheitert war; oder es war eine bloße Bewegung der verschiedenen, von Schachfiguren dargestellten Kräfteeinheiten im Nebel meines Gehirns - eine Art schneller Pantomime, die neue Harmonien und neue Konflikte in Aussicht stellte; was es auch war, es war jedenfalls ein besonders anregendes Gefühl, und das einzige, was ich heute bedaure, ist, daß das besessene Hantieren mit geschnitzten Figuren oder ihren geistigen Gegenstücken während meiner überschwenglichsten und fruchtbarsten Jahre so viel Zeit verschlang, die ich besser auf sprachliche Abenteuer hätte verwenden können. - (nab)

Inspiration (3)   Auf bildnerischen Darstellungen ist die Pythia ruhig, heiter, konzentriert, genau wie der Gott, der sie inspiriert. - Mircea Eliade, Schamanen, Götter und Mysterien. Die Welt der alten Griechen. Freiburg 1992

Inspiration (4)   Gäbe es nicht verregnete Tage, durchwachte Räusche, Anfälle der Hypochondrie, Kuren, schläfrige  e, unglückliche Würfelpartien, lange Schneiderrechnungen, Bettlerbörsen, aufrührerische Köpfe, keine heiße Sonne, keine Hartleibigkeit, keinen Mangel an Büchern und keine gerechte Verachtung aller Gelehrsamkeit - ich sage, gäbe es all das und vieles andere, was aufzuzählen zu weit führen würde (vor allem die kluge Versäumnis, innerlich Schwefel zu nehmen), nicht, so dünkt mich, würde die Anzahl der Schriftsteller und der Schriften so zusammenschmelzen, daß es ganz jämmerlich anzusehn wäre. Zur Bestätigung dieser Anschauung höre man die Worte des berühmten troglodytischen Philosophen: »Es ist sicher«, sagt er, »daß stets ein paar Körnchen Narrheit in dem Gemisch vorhanden sind, aus dem die menschliche Natur besteht; uns bleibt nur die Wahl, ob wir sie als Intarsien oder ob wir sie als Relief tragen wollen, und wir brauchen nicht weit zu suchen, wenn wir sehn wollen, wie das in der Regel entschieden wird, wenn wir nur bedenken, daß es mit den menschlichen Fähigkeiten geht wie mit den Flüssigkeiten: die leichtesten schwimmen immer obenauf.«   - Jonathan Swift, nach: J. S., Satiren. Frankfurt am Main 1965 (Sammlung Insel 5)

Inspiration (5)  (Zweifelhaft) Man sagt sich in diesem Augenblick: es ist so schön daß man es sich nicht entgehen lassen darf. Das würde jegliche Trägheit bezwingen. Denn trotz allem muß man sich um inspiriert zu sein wieder und wieder ins Nachforschen versenken, in die Arbeit, und den Blick akkomodieren, dann stellt sich sehr schnell der Genuß ein. Unfehlbar kommt es zum Erguß. So empfinde ich die Inspiration.

Jedesmal gleiche Vision vertieft wo etwas glücklich sich verschoben, sich verdichtet hat, wo die neuen Bezüge sichtbar werden.

Lange Periode des Suchens. Dann Vision. Die Akkomodation ist erreicht. Das ist schön. Das macht müde man glaubt das sei alles, doch nein es ist zu schön ich will es nochmals sehen muß es nochmals sehen und es ist zu schön und mich beeilen die Feder läuft nicht rasch genug der Ausdruck bringt Ruhe. Dann setzt man erneut an und die Akkomodation ergibt sich sehr schnell ein zweites Mal und die weiteren Male: man braucht die Ruhe von Mal zu Mal. Und gleich wieder nimmt die Beunruhigung überhand es ist zu schön usw.  - Francis Ponge, Schreibpraktiken oder Die stetige Unfertigkeit. München 1988 (Edition Akzente, zuerst 1984)

Inspiration (6) Die Inspiration empfinde ich so:

Hat der Geist sich lange genug genährt und erregt, kann der entäußernde und schöpferische Genuß einsetzen.

Aufgrund einer beliebigen Idee. Freilich ist zu sagen daß üblicherweise die Idee zuvor schon lange das Organ erregt hat das ihren Samen zum Ejakulieren nutzt aber ich habe die Erfahrung gemacht daß die von einer andrängenden Idee gehemmte Macht des Geistes sich einer andern Idee zuwenden und ihr zum Vorteil gereichen kann. Der Geist kann mit zwei Ideen aufs Mal Liebe machen. Durch die eine sich erregen lassen und der andern zum Genuß verhelfen und bisweilen beide auf der Stelle schwängern.

Geburt der Inspiration aus dem kombinierten Spiel des kritischen Geistes und des lyrischen oder logischen (verbalen) Stroms ich meine den Strom die Rekapitulation. Notwendigkeit sich auf einen Gegenstand zu beschränken, 1) Ich denke an eine bestimmte Sache. 2) ich denke einen Haufen Dinge drum herum, darüber usw., ich spreche, ich finde allmählich die Einstellung. 3) beim Ertasten, bei der Vervielfachung der Wörter Gespanntheit des Geistes einen gibt's der nimmt unversehens die Qualität einer Formel an.

TENDENZ ZUR FORMEL. Und einen gibt's der gibt sich formelhaft und dabei geht er über die Formel hinaus. Man entdeckt dann statt Dinge einzusetzen man holt sie heraus. Man entfaltet ihn so wie man einen Regenschirm öffnet, etwas Gefaltetes das harmonisch entfaltet wird. Spiel des kritischen Geistes bei der Wahl dieses Worts. Weiterzumachen wissen bis man es findet. Nicht sich zufriedengeben mit unbedarften Anpassungen. Mit dem Ertasten. Weitergehen wollen bis zur Einheit der Formel.  - Francis Ponge, Schreibpraktiken oder Die stetige Unfertigkeit. München 1988 (Edition Akzente, zuerst 1984)

Inspiration (7)  »Inspiration« — Es läßt sich folgende Hypothese aufstellen: Der unmittelbare Gedanke ist Hervorbringen. An seine Stelle kann der Gedanke der UNMITTELBAREN Wahl treten. Der Inspirierte wäre nicht jemand, der ungewöhnlich Gutes hervorbringt, sondern der ungewöhnlich gut dafür sensibilisiert ist, mitzuschwingen bei gut Hervorgebrachtem, das in ihm entsteht oder ihm zufällt, nicht anders als Bedeutungsloses oder Absurdes auch. So wie das Ohr Töne aus Geräuschen heraushört. Es kann sein, daß die Menge des Hervorgebrachten ebenfalls zunimmt.   - (pval2)

Inspiration (8)   Im vorgeschriebenen Augenblick trat Granero hervor: den Stier in seine Capa hüllend, spielte er mit der Wut des Ungeheuers. Unter tosendem Beifall lenkte der junge Mann den Stier in der Capa immer wieder um sich herum; jedesmal wenn die Bestie wütend auf ihn einstürmte, vermied er um Fingerbreite den furchtbaren Stoß. Der Tod des Sonnenungeheuers vollzog sich ohne einen Zwischenfall. Nicht enden wollender Beifall brandete auf, als das Opfer, mit der Unsicherheit eines Trunkenen, in die Knie ging und sich dann sterbend fallen ließ, die Beine in die Luft gestreckt. Simone, die zwischen Sir Edmond und mir stand - außer sich vor Erregung wie ich auch -, lehnte es ab, sich nach dem Beifallssturm wieder zu setzen. Wortlos nahm sie meine Hand und führte mich in einen der äußeren Höfe der Arena, wo es nach Urin stank. Ich griff nach Simones Arsch, während sie hitzig meinen Schwanz hervorzog. So betraten wir die stinkenden Aborte, wo winzige Fliegen einen Sonnenstrahl beschmutzten.

Sobald Simone entblößt war, stieß ich meinen rosigen Schwanz in ihr schäumendes blutrotes Fleisch; während er noch in diese Liebeshöhle eindrang, streichelte ich ihr wie toll den Anus, und unsere Münder vermischten sich in wildem Aufbegehren.

Der Orgasmus des Stiers kann nicht stärker sein als der, der unsere Lenden bersten ließ und uns zerriß, ohne daß mein Glied zurückwich, die zuckende Vulva vom Samen überströmt. - (obs)

Inspiration (9) Takt für Takt wird mir das fertige Werk offenbart, wenn ich mich in dieser seltenen, inspirierten Gefühlslage befinde. Ich muss mich im Zustand der Halbtrance befinden, um solche Ergebnisse zu erzielen, ein Zustand, in welchem das bewusste Denken vorübergehend herrenlos ist und das Unterbewusstsein herrscht, denn durch dieses, als einem Teil der Allmacht, geschieht die Inspiration.   - Johannes Brahms, nach: Konrad Lehmann, Ideen aus dem neuronalen Untergrund, Telepolis vom 07.08.2016

Inspiration (10) Empfinden und Mittel stehen beim großen Künstler in einer besonders innigen wechselseitigen Beziehung, die in dem gemeinhin unter dem Namen „Inspiration" bekannten Zustand zu einer Art Genuß wird, einem beinahe vollkommenen Austausch oder Übereinkommen zwischen Wunsch und Erfüllung, Wollen und Können, Idee und Tat, und sich steigert bis zum Punkt der Lösung, wo dieses Übermaß an geordneter Einheit abnimmt und das von unseren Sinnen, aus unseren Kräften, unseren Idealen, unseren aufgespeicherten Schätzen bestrittene Ausnahme-Sein aus den Fugen gerät, zerfällt und uns unserem gewöhnlichen Gewerbe zurückgibt, dem Austausch von Minuten ohne Wert gegen Wahrnehmungen ohne Zukunft, nichts hinterlassend als irgendein Bruchstück, das nur in einer Zeit oder in einer Welt oder unter einem Druck oder dank einem Wärmegrad der Seele hat entstehen können, die von denjenigen, die das X-Beliebige enthalten oder hervorbringen, sehr verschieden sind ...

Ich sage: ein Bruchstück; denn es ist wenig wahrscheinlich, daß aus solchen nur allzu flüchtigen Verbindungen ein ganzes Werk von einigen Umfang hervorgeht. Für diesen Fall nämlich müßte das Wissen hinzukommen, bräuchte es Zeit, neue Anläufe, Kritik. Man muß einen guten Kopf haben, um die Glücksfälle auszunützen, die Funde zu meistern und — fertig zu werden.  - (deg)

Inspiration (11)


Poet Begeisterung Mystik Geist

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

Verwandte Begriffe

Synonyme