Dnsel, einsame   Nauri war, nachdem der Orkan sie von ihrer Familie getrennt hatte, ihrem eigenen Abenteuer entgegengeschwemmt worden. Sie hatte sich an ein rohes Brett angeklammert, an dem sie sich die Haut abschürfte und dessen Splitter ihr überall ins Fleisch drangen. Zusammen mit diesem Brett wurde sie über das Atoll hinweg ins offene Meer getragen. Hier entrissen ihr die Wellenberge das Brett. Trotz ihres Alters — sie war beinahe sechzig — schwamm sie in der Finsternis weiter, denn nicht umsonst war sie eine gebürtige Paumotanerin, die ihr Leben lang die See vor Augen gehabt hatte. Bald würgend, bald nach Luft schnappend, führte sie ihren Kampf, als sie mit der Schulter hart an eine treibende Kokosnuß stieß. Augenblicklich hatte sie einen Plan geformt. Sie bemächtigte sich der Nuß, und im Verlauf der nächsten Stunde bemächtigte sie sich sieben weiterer. Zusammengebunden wirkten sie wie ein Rettungsring, der sie über Wasser hielt; allerdings drohten dafür die Nüsse, sie zwischen sich zu zermalmen. Angesichts ihrer Leibesfülle war ihre Körperoberfläche leicht verletzbar, doch hatte sie in ihrem Leben einige Erfahrungen mit Orkanen sammeln können. Während sie darauf wartete, daß sich die Wucht des Orkans bräche, betete sie zu ihrem Haifischgott, daß er sie vor den Haien bewahre. Allein um drei Uhr war sie so betäubt, daß sie das Nachlassen des Sturmes nicht wahrnahm. Sie bemerkte es auch nicht, als um sechs Uhr der Wind ganz aufhörte. Erst als sie auf den Sand geworfen wurde, kehrte ihr Bewußtsein zurück.   Mit   aufgerissenen,   blutenden   Händen krallte sie sich in ihm fest, um der zurückflutenden Welle standzuhalten; dann kroch sie höher, bis sie aus der Reichweite der Wellen gelangte. Sie wußte sogleich, wo sie sich befand. Sie mußte auf Takotoka, einem winzigen Inselchen, angeschwemmt worden sein. Eine Lagune besaß es nicht, und niemand lebte darauf. Hikueru war fünfzehn Meilen entfernt. Sie konnte es nicht sehen, wußte aber, daß es im Süden lag. Die Tage gingen vorüber; die Kokosnüsse, die sie über Wasser gehalten hatten, dienten ihr jetzt als Nahrung und Getränk. Aber sie aß und trank mäßig. Es war fraglich, ob Hilfe kam. Draußen am Horizont konnte sie den Rauch der Rettungs dampf er sehen, aber welcher Dampfer würde das einsame, unbewohnte Takotoka anlaufen?

Zur größten Qual wurden die Leichen, die die See hartnäckig auf ihren kleinen Strandstreifen spülte und die sie ebenso hartnäckig — so lange sie konnte — ins Wasser zurückwarf, wo die Haie sich ihrer nach und nach annahmen. Fehlte ihr die Kraft, dann häuften sich die Körper zu einem grausigen Strandschmuck, von dem sie sich so weit wie möglich — und das war nicht sehr weit — zurückzog. Am zehnten Tag hatte sie die letzte Kokosnuß verzehrt, und Durst begann sie zu peinigen. Mühsam schleppte sie sich auf der Suche nach Kokosnüssen den Strand entlang. Es war seltsam, daß so viele Körper angeschwemmt wurden, während Nüsse vollständig fehlten. Es trieben doch bestimmt mehr Kokosnüsse in der See als Tote. Schließlich gab sie's auf und blieb erschöpft liegen. Das Ende war gekommen. Es blieb ihr nichts übrig, als den Tod zu erwarten.

Aus einer Betäubung erwachend, dämmerte ihr ganz allmählich, daß ihre Augen auf einem Schopf rötlichen Haares am Kopfe einer treibenden Leiche ruhten. Bald trugen die Wellen ihn näher heran, bald schwemmten sie ihn weg. Jetzt wurde die Leiche herumgeworfen, und sie sah, daß sie kein Gesicht hatte. - Jack London, Das Haus Mapuhis. In: J. L., Die konzentrischen Tode. Stuttgart 1983  (Die Bibliothek von Babel, Bd. 14, Hg. Jorge Luis Borges)

Insel Einsamkeit

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