Ikonographie  Eingerahmt von den Pfosten und vom einfältig gezogenen Bogen nahm das alte Gemälde, verblichen und kalkig zwar in den Farben, dennoch die Aufmerksamkeit gefangen. Der gute Dicke warf den Blick darauf, verblödet und benommen vom Schlaf und vom unerwartet frühen Ausflug. Zwei, unzweifelhaft Heilige, so schloß er aus dem Dargebotenen, allso gekleidet in ihre Gewänder, die anders waren als jenes übliche Jacke-und-Hose der Männer: glorienscheinumstrahlt die Köpfe: einer von den beiden ohne Bart und kleiner: und schwarz und kahl: der andere steif und knochig mit einem weißen Zottel am Kinn wie ein Klacks Mörtel, und ganz dichtes Haar bis herunter zur halben Stirn, weiß, oder einst weiß gewesen, im gelblichen Kreis des Heiligenscheins. Die beiden Mäntelchen, die zusammengebündelt wie Bandeliers über die linke Schulter der beiden Gesellen hingen, ließen unterwärts die Schienbeine frei, und mehr noch als die Schienbeine die gemalten Vorderfüße: und hatten dem ursprünglichen Maler, dem »Schöpfer«, erlaubt, vier überraschende Füße auf die Szene zu bannen. Die beiden rechten, riesengroßen, waren ihm spontan dem Pinsel entflossen: und verästelten sich freizügig in Zehen, vorwärtsgerichtet im Schreiten und den Vordergrund durchbohrend, jene ideale Fläche (vertikal und durchsichtig), auf welche jede Möglichkeit des Sehens zurückgeschraubt wird. Mit erhöhter Aussagekraft, mit bewunderungswürdiger Entsprechung der in Jahrhunderten erworbenen Schulung, waren die großen Zehen dargestellt. In jeder der beiden Ausgestreckten trennte und vereinzelte das Riemchen einer sonst nicht wahrnehmbaren Beschuhung das Knöchelwerk zu jener erhabenen Vordringlichkeit, die ihr zu eigen ist, der großen Zehe zu eigen und nur der großen Zehe, indem sie sie absondert von der Schar der unbedeutenderen Zehen, unbedeutender im Rang und weniger zur Verherrlichung bestimmt, aber gleichwohl in den Folianten der Osteologen und in den Meisterwerken der italienischen Malerei als Zehen verzeichnet. Die beiden verherrlichten, vom Genius zur Geltung gebrachten Zehen streckten sich, schnellten sich nach vorn: sie schritten sozusagen für sich selbst: stießen, gekoppelt wie sie waren, gleichsam ins Auge: vielmehr in beide Augen: sublimierten sich zum zentralen, pathetischen Motiv des Frescos oder AI Frescos, denn um ein schönes Fresco handelte es sich hier. Ein Blitz des Himmels, ein Licht marterdurchlohter Stunde ließ sie blaß leuchten, das jedoch, bei näherem Zusehen, aus der Erde zu glühen schien, da sie ja von unten her davon beleuchtet waren. Das ferne Schreien eines Eselchens, im Verweilen des Winds, begleitet vom Klingeln eines Schellenzeugs. Die ruhmvolle Geschichte unserer Malerei ist zu einem Teil ihrer Glorie den Zehen verpflichtet. Das Licht und die Zehen sind die wichtigsten und unfaßlichsten Ingredienzien jeder Malerei, die sich lebendig behaupten will, die ihren Ausdruck sucht, erzählen, überzeugen, formen möchte - die danach strebt, unsere Sinne zu unterjochen, die Herzen dem Bösen abzuringen: die achthundert Jahre lang auf ihren Lieblingsdarstellungen beharrt. Und die Heiligen, die so beladen sind mit den Gaben des Herrn, auch sie könnten nicht der unentbehrlichen Gabe der Füße ermangeln : um so weniger diese beiden, die einst auf der Appia bis nach Babylon wanderten, um dort enthauptet oder mit dem Kopf nach unten ans Kreuz geschlagen zu werden.

Bei ihnen waren, ganz im Gegenteil, eben diese Füße das physische Instrument ihres wallenden Apostolats: bis sie zwischen die Füße des Nero gerieten. Der sich aber nicht überzeugen ließ. Nein, die Heiligen können nicht auf das Rüstzeug der großen Zehen verzichten: ebensowenig wie die Soldaten auf die Zuteilung ihrer Büchsenfleischration. Schon garnicht damals, wenn so ein italienischer Maler des sechzehnten oder siebzehnten Jahrhunderts, oder des achtzehnten oder gar noch schlimmer, sich vor sie hinkniete und sich anschickte, sie von unten her abzukonterfeien mit der Hingabe eines Pedikeurs.

In Italien ist das Licht die Mutter der großen Zehen: und wer ein echter italienischer Maler ist, der läßt sich da nicht lumpen, bewahre,, wie auch der Manieroni von den Due Santi sich nicht hat lumpen lassen, weder was das Licht noch was die Zehen betrifft. Der Vorderfuß des Heiligen Joseph im Rundbild des Michelangelo (von der palatinischen Heiligen Familie) verspreisselt sich sogar zu einem ganz unvergleichlichen Großen Zeh: welchselbiger Zeh, wenngleich zu einer winzigen Portion, vom Zehlein der Gattin überdeckt erscheint: ein blasses Licht, ein beinah überwirkliches oder eschatologisches vielleicht, legt eine Zehen-Idee nahe, indem sie sie auf hehre Weise fleischlich, beziehungsweise knöchelig verkörpert als primäre Realität: und sie doch allsogleich wieder hereinholt in die metaphysische Blässe der Ewigkeit. Ein Rivale zum michelangelesken und palatinischen Zeh (der das Wunder der männlichen Keuschheit zu verkörpern hat), entsproßtdem gleichen Vorderfuß, und zwar in der »Heiligen Vermählung« des Urbiners, heute in der Brera befindlich. Die Abzweigung des einzelnstehenden und mageren großen Zehs vom restlichen Rudel der kleineren ist verdeutlicht durch die perspektivisch anmutige Zusammenfügung des säuberlichen Pflasters, auf welchem nichts liegt, keine Schale, kein Schnipsel, weder von Orangen noch von Kastanien; kein Blatt hat sich dort gelagert und kein Fetzen, weder Mensch hat dort hingepißt, noch Hund. Und die Hauptzehe, wenn auch getrennt von den Zehlein, ist an ihrer Wurzel abgespornt und versteift: dann aber biegt sie sich einwärts, als zwänge die Gicht sie dazu oder der gewohnte Zwang eines vorübergehend abgelegten Schuhwerks, oder als würde sie, so könnte man sagen, domum relapsa, als stänke sie zu sehr für die Stunde der Hochzeit. Und gibt Antwort, erhaben geworden durch die Abspreizung, gibt Antwort auf die hohe und hochaufgerichtete Ekstase des zarten Stengels oder Stabs, der in nächtlicher Stunde die Blüte getrieben: drei weiße Lilien, nicht die übliche Nelke: und schafft sich aus dem recht seltenen Zusammenspiel der Zimmermanns-Unschuld mit der Zimmermanns-Ärmlichkeit die Kennzeichen einer vielgeübten Handwerkskunst: der großen Zehen von barfüßigen Zimmerleuten in dieser Art sind viele. 

Auf diese so übliche Ikonographie der zwei Heiligen und die der Apostel im allgemeinen: warum hätte der Manieroni da nicht die unverbrauchten Energien bartumwallter vierzig Jahre seiner Lebenszeit verwenden sollen ; gestützt durch Gerüst und Steg und, über seinen gläubigen Eifer hinaus, noch von einer eisernen Gesundheit: dem Körperbau eines Athleten, dem Appetit eines Propheten: und hin und wieder gestärkt auch von einem Handschlag jener dort, zu dem sie sich, wenn auch widerwillig, herabließen: jener, die ihm den Auftrag zu solchen Wunderwerken erteilten. Im Kirchlein der Due Santi, überblüht und überkräuselt mit Stuck von topfenfarbiger Blässe, war es ihm endlich gegeben, alle seine Talente zu vereinen und zu verwenden: jene Talente, mit denen sein Pinsel sich zunehmend geschwängert hatte in zwanzig Jahren der Jüngerschaft und Einweihung und beharrlichen Disziplin, und in weiteren zwanzig Jahren bartwallender Meisterschaft. Ergüsse des Impetus, freihändig entladen auf den damals frischen Mauerkalk, alfresco: die beiden großen Zehen: der Petersche und der Paulsche, so zeugten sie von der ganzen Kraft und Dringlichkeit des Schöpfens: vom Unabstellbaren des Niederschlags ... vom Zwangsimpuls, wie hervorgespritzt aus dem Wasserspeier, aus dem Springquell... »den hohe Lust bedrängt«. Der »Schöpfer« konnte sich einfach nicht mehr halten ... nicht mehr des Schaffens enthalten. »Fiat lux!« Und es ward der Große Zeh. Plaff! Plaff!  - Carlo Emilio Gadda, Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana. München 1988

 

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