geltod Seine
Mutter, oder war es sein Vater gewesen?, hatte im vorigen Sommer während
einer ganzen Woche jeweils am hellen Mittag, sonderbar für einen Igel,
ohne Scheu das Anwesen umkurvt, zuerst bloß leise piepsend, am letzten
Tag aber mit einem zunehmend schrillen Pfeifen. Am Ende hatte der Igel seinen
Rundgang gestoppt auf einem Weg, der ausgelegt war mit Steinplatten. Das Tier
lagerte sich an diese von der Julisonne beheizte Stelle, wurde aber nicht still,
sondern pfiff noch inständiger, den Kopf weit aus dem Stachelpanzer gereckt.
Pfeifen, das zu Trillern wurde, schriller als jede Alarmanlage oder Polizeisirene.
Trillern, das zu Schmettern wurde. Bis zum äußersten aufgesperrtes
Igelspitzmaul, und trotz ihrer, der Frau, Hand auf dem Igelgesicht keine Andeutung
eines Rückzugs. Schmettern, sich steigernd zu einem Bombenalarmdröhnen
- dabei ein so kleiner Körper, ein so winziges Gesicht! Schließlich
der Luftsprung des Schreiers, mit den vier Beinen mehr als eine Handbreit über
dem Boden, und jetzt noch so ein Satz, schräg in den Raum, zumindest gleich
hoch. Sichstrecken des Igels wie zum Schlaf auf den besonnten Platten. Wegstrecken
der Füße, Vorstrecken der Schnauze auf dem Stein. Und kaum einen
Augenblick später sein Stacheloval bespickt mit blauschillernden Fliegen,
von denen schon zuvor ein paar die zuckende Nase umschwirrt hatten; die Stacheln
im jähen Tod nicht mehr geordnet, sondern kreuz und quer. Und fast zugleich
auch das aus dem Unterholz tappende Igeljunge, kaum apfelgroß, die soeben
verreckte Mutter oder den soeben verreckten Vater kurz beschnuppernd und schon
wieder verschwunden im hohen Gras. -
Peter Handke, Der Bildverlust. Frankfurt am Main 2002
Igeltod (2) Auf dem Tisch am Fenster lehnte ein Ölbild an der Wand. Es zeigte einen Igel, der auf einem grasigen Weg lag. Zur Seite gekehrt war der Igel, und sein Leib erschien gebläht. Auf seinem Pelz mit braunen und gelblichen Stacheln saßen Fliegen, so genau gemalt, daß Eugen versucht war, sie weg-zuscheuchen. Die Fliegen schillerten grünlich, als wären sie aus Metall, und eine solche Fliege schwebte auch über des Igels Schnauze. Auf dürren Grashalmen war er ausgestreckt, und über ihn neigte sich eine Königskerze mit gelben Blüten. - »Die erweist ihm die letzte Ehre«, sagte Heinrich.
Nach einer Weile fügte er hinzu: »Wenn uns das auch einmal zuteil wird, können
wir von Glück sagen«, doch verstand das Eugen nicht genau. Aber vielleicht meinte
Heinrich, solchen Existenzen wie er und ihm müßte die Verneigung einer Königskerze
nach dem Tod genug der Ehre sein; oder sie beide könnten sich >von< schreiben,
wenn ihnen als Toten eine Königskerze nachwinkte. Und er sagte: »Von dem ist
nichts mehr da. Als er so ausgesehen hat« — er deutete aufs Bild — »hat seine
Schnauze noch gezittert und sein Bauch hat sich bewegt; er hat noch mal geschnauft.
Doch heut ist nichts mehr von ihm übrig. Zunächst war seine Schnauze weggefressen,
dann hat sein Leib flach und zerzaust ausgesehen, als hätte ihn die Katze ausgehöhlt.
Auf dem Weg hinter der Schutthalde seh ich immer eine Katze vorbeistreichen.
Zuletzt war noch ein weißes Schulterblatt von ihm da. Auch das fehlt jetzt.«
- Hermann Lenz, Herbstlicht. Frankfurt
am Main 2000
|
||
|
||