ch  (96) brauche bei meinen Studien nicht durch den Gedanken an irgendeine Belohnung gestützt zu werden; und das Erheiterndste ist, daß ich, wenn ich mich mit Kunst befasse, nicht stärker daran glaube als an sonst etwas, denn der Kern meines Glaubens ist, keinen zu haben. Ich glaube nicht einmal an mich; ich weiß nicht, ob ich dumm oder geistvoll bin, gut oder schlecht, geizig oder verschwenderisch. Ich treibe zwischen all dem umher wie jedermann. Mein Verdienst ist vielleicht, daß ich es merke, und mein Fehler, den Freimut zu haben, es auszusprechen. Im übrigen: ist man seiner so sicher? Ist man dessen sicher, was man denkt? was man fühlt? - Flaubert an Louise Colet, 23. Oktober 1846, nach (flb)

Ich  (97)  Wenn ihr wüßtet, wie wenig ich nach J.P.F. Richter frage; ein unbedeutender Wicht; aber ich wohne darin, im Wicht.  - (idg)

Ich  (98)  Nach tausend Überlegungen habe ich Lust eine schicke Autobiographie zu erfinden, um einen guten Eindruck zu machen.

1. Schon im zartesten Alter habe ich alle in der Geschichte berühmten Worte von mir gegeben: Wir werden im Schatten kämpfen - geh mir aus der Sonne - wenn ihr eure Feldzeichen und Standarten verloren habt - schlag zu, aber höre, usw.

2. Ich war so schön, daß die Kindermädchen mich herzten, daß es ihnen die Schultern ausriß, und die Herzogin von Berry ihre Karosse anhalten ließ, um mich zu küssen (historisch).

3. Ich zeigte früh bereits eine unbändige Intelligenz. Als ich noch keine zehn war, konnte ich schon die orientalischen Sprachen und las die Himmelsmechanik von Laplace;

4. Ich habe XLVIII Personen aus Bränden gerettet.

5. Bei einer Wette habe ich eines Tages XV Lendenbraten gegessen, und ich kann immer noch, ohne daß es mir schwerfiele, 72 Dekaliter Branntwein trinken.

6. Ich habe im Duell dreißig Karabinieris getötet. Eines Tages waren wir drei, sie waren zehntausend. Sie haben von uns Prügel bezogen!

7. Ich habe den Harem des Großtürken müde gemacht. Alle Sultaninnen riefen, als sie mich sahen: »Oh, wie schön er ist! Tajeb! Zeb Ketir!«

8. Ich schlüpfe heimlich in die Hütte des Armen und die Mansarde des Arbeiters, um unbekanntes Elend zu lindern. Dort sehe ich einen alten Mann ... hier ein junges Mädchen, usw. (führe die Periode zu Ende) und verteile Gold mit vollen Händen;

9. Ich habe achthunderttausend Pfund Rente. Ich gebe Feste;

10. Alle Verleger reißen sich meine Manuskripte aus den Händen;

11. Ich kenne »die Geheimnisse der Kabinette«;

12. (und letztens) Ich bin religiös!!! Ich verlange, da» meine Dienstboten zum Abendmahl gehen. - Flaubert an Ernest Feydeau, 21.August 1859, nach (flb)

Ich (99)

Ich  (100) Es kommt mir so vor, als ob ich von jeher existiert hätte! Und ich besitze Erinnerungen, die bis zu den Pharaonen zurückreichen. Ich sehe mich sehr deutlich in verschiedenen Zeitaltern mit unterschiedlichen Berufen und unter den verschiedenartigsten Lebensumständen. Mein derzeitiges Individuum ist das Ergebnis meiner verschwundenen Individualitäten. Ich war  Bootsmann auf dem Nil, leno in Rom zur Zeit der Punischen Kriege, dann griechischer Rhetor in Suburra, wo ich von den Wanzen aufgefressen wurde. Ich bin während der Kreuzzüge gestorben, weil ich am Strand von Syrien zuviel Weintrauben gegessen habe. Ich war Pirat und Mönch, Gaukler und Kutscher. Vielleicht auch Kaiser im Orient.  - Flaubert an George Sand, nach (flb)

Ich  (101)  Warum? Weshalb? Wieso? Nur Dumme wissen Bescheid. Ich war nie ein Rindvieh. Ein Affe oft — aber das lehrte mich auf die Bäume zu klettern. Manchmal sehr hoch hinauf. Also lieber noch ein Baumaffe als ein Wiesenrindvieh, das in seinem Mist steht. Zuletzt stand ich gewaltig im Mist - und nicht einmal im eigenen. Scham und Schande.  - Georg Kaiser 1938, nach:  Tintenfaß 2, Zürich 1981

Ich  (multiples)  Er müßte sich vorwerfen daß er in seinem Tagebuch keine ernsthaften Themen anschneidet, aber er wirft es sich nicht vor, denn er ist nicht er selbst in seinem Tagebuch sondern ein anderer, der ihn ironisch beobachtet. Er kann nicht ich schreiben ohne sofortige Unterschiebung.

Möglich daß sich zu den beiden Monsieur Traum ein dritter gesellt, von zweifelhaftem Charakter, bösartig. Was läßt den Schreibenden das vermuten? Ein in bestimmten Momenten flüchtig wahrgenommener Schatten versetzt ihn in Schrecken, läßt sich nicht einordnen, entzieht sich.

Früher aus Spott oder Schwäche Feind benannt, doch mit dem Alter unbenannt um ihn zu bannen, ihn nicht an Boden gewinnen zu lassen.  - (rp)

Ich  (103) hätte, sage ich zum Fuhrmann, jeden Tag um die gleiche Zeit, am Abend, vor dem Einschlafen, die Vorstellung, jetzt watten zu gehn. Im Bett liegend, abwechselnd im Bett liegend und sitzend, hätte ich die Vorstellung, watten zu gehn, während ich in Wirklichkeit gänzlich mit den Bemühungen beschäftigt bin, aus allen Krankheiten eine Philosophie zu machen. Was der Fuhrmann nicht versteht. Aber ich sage zum Fuhrmann: da gehe ich, dort gehe ich, von allen Seiten komme ich in den Wald herein, gehe ich in den Wald hinein, um watten zu gehn. Tatsächlich komme ich mitten im Wald von allen Seiten auf mich zu, um watten zu gehn. Tatsächlich gehen alle diese in den Wald hereinkommenden Ich watten. Und haben nichts im Kopf als den Gedanken, watten zu gehn. Das ist aber das Merkwürdige, sage ich: alle haben den Gedanken im Kopf, watten zu gehn, gehn aber nicht watten. Wollen watten gehn, gehn watten, gehn aber nicht watten, sage ich. Immer die Vorstellung, vor allem immer während ich mit Krankheiten beschäftigt bin, ich ginge watten, ich gehe watten, Hunderte, Tausende gehen gleichzeitig als ich selbst auf mich zu, watten. - Thomas Bernhard, Watten. Ein Nachlaß. In: T.B., Die Erzählungen.  Frankfurt am Main 1979

Ich  (104)   Der Assistent eines Ausstopfers ermordet seinen despotischen Arbeitgeber und sperrt sich, bestrebt, seine böse Tat zu verbergen, aus Versehen in der abgezogenen Haut des toten Präparators ein. Als die Polizei Nachforschungen anstellt, kann er nicht erklären, wohin er selbst verschwunden ist, und wird wegen Mordes an sich selbst festgenommen.  - Vorwort zu (myl)

Ich  (105)  bin ein Verehrer der Sonne in Gartenrestaurants, ein Trinker des sich im feuchten Pflaster spiegelnden Mondes, ich gehe aufrecht und gerade, während sich meine Frau daheim, obwohl stocknüchtern, Fehler erlaubt und taumelt, die humorige Deutung des heraklitschen Panta rhei rinnt mir durch die Kehle, und jede Kneipenrunde auf der Welt ist ein Rudel Hirsche, die sich mit dem Geweih ihres Gesprächs ineinander verhakt haben, die große Aufschrift Memento mori, die aus den Dingen und menschlichen Schicksalen weht, sie ist ein Grund zum Trinken sub specie aeternitatis, deshalb bin ich ein Dogmatiker in fluidem Zustand, die Theorie von Schilf und Eiche ist für mich die treibende Kraft, ich bin ein erschrockener menschlicher Aufschrei, den eine Schneeflocke zusammenbrechen läßt, immerfort bin ich in Eile, um zwei, drei Stunden täglich untätig tätig träumen zu können, denn ich weiß wohl, daß das menschliche Leben vergeht, wie man Karten mischt, daß es vielleicht besser wäre, mich durchzuwaschen, m einem Taschentüchlem wegzuwerfen, zuweilen tue ich so, als schnuppere ich hoffnungsfroh an einer Million, dabei weiß ich genau, daß ich am Ende eine lachende Null gewinne, daß diese ganze Pracht mit einem Samentropfen begann und im Knacken eines Feuers enden wird, so schöne Anfänge und ein so schönes Ende  - Bohumil Hrabal, Leitfaden für den Baflerlehrling. Nach: B. H., Leben ohne Smoking. Frankfurt am Main 1993 (BS 1124, zuerst 1986)

Ich  (106) bin ein scheues Reh auf der Lichtung frecher Erwartung, ich bin eine feste Glocke, zerborsten unter dem Blitz der Erwartung, der Objektivität der Natur und der Gesellschaftswissenschaften, ich bin ein negativer Genius, ein Wilderer in den Gehegen der Sprache, ich bin ein Heger der humorigen Inspiration, ein vereidigter Wächter auf den Fluren anonymer Anekdoten, ein Meuchler guter Einfälle, ein Teichmeister an den zweifelhaften Fischkästen der Spontaneität, ein Heroe des denkenden Unverstands, ein überstürzter und verfrühter Kreuzherr der Parallelen, der eine mit der Butter des Unendlichen bestrichene Schnitte essen will, der die Sahne der Ewigkeit gleich jetzt und sofort und niemals sonst aus einem Halbliterseidel trinken möchte, die fehlerhafte Auslegung der Worte Christi betrachte ich als das Reizvolle der apostolischen Texte  - Bohumil Hrabal, Leitfaden für den Baflerlehrling. Nach: B. H., Leben ohne Smoking. Frankfurt am Main 1993 (BS 1124, zuerst 1986)

Ich  (107) bin ein jugendschwangerer alternder Herr, Mimik und Sprache sind die bewegliche Grammatik des inneren Jargons, warmer Hackbraten und ein Glas kühles Lagerbier beweisen mir nach einer halben Stunde die Transsubstantiierung der Materie in gute Laune, eine billige Metamorphose das erste Wunder auf der Welt, eine auf eines Freundes Schulter gelegte Hand ist mir die Klinke, mit der man die Tür zur Glückseligkeit öffnet, wo jeder geliebte Gegenstand der Mittelpunkt des Paradiesgartens ist, Kannibalismus auf trockenem Wege ohne Priester und Abitur, die traurigen Kuhaugen, die sich neugierig über die Seitenbretter der Lastautos recken, das sind meine Augen, die minderjährige Färse, derer mit blitzenden Messer die Schlächter harren, das bin ich, die Meise, die an einem frostigen Frühabend mit ausgerenkten Flügeln in einen Eimer kaltes Wasser gepumpt wird, das bin ich, die Flamme, in welche die treuen Wespen zurückkehren, um nebst ihren Gefährten im lodernden Nest zu verbrennen, das skizziert mir zur Genüge die exakte Idee einer brennenden Honigwabe, die allein für mich vorbereitet ist, ich bin also korrespondierendes Mitglied der Bafel-Akademie, Hörer am Katheder für Euphorie, mein Gott ist Dionysos, der betrunkene, liebenswerte Jüngling, die menschgewordene Fröhlichkeit   - Bohumil Hrabal, Leitfaden für den Baflerlehrling. Nach: B. H., Leben ohne Smoking. Frankfurt am Main 1993 (BS 1124, zuerst 1986)

Ich  (108)

Ich  (109) »Ich kann's nicht behaupt'n, daß ich mich an Sie erinnere«, grinste er, »aber auf der andern Seite erinner' ich mich an gar nix mehr. Wie zum Beispiel kam ich zu meiner gebroch'nen Nase? Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht war ich Preisboxer, vielleicht bin ich aber auch drauf gefallen, als ich betrunken war. Obwohl ich mir's nicht denken kann, daß ich je betrunken gewesen wäre - aber - in den Akten steht ›Gewohnheitstrinker‹. Na, kann ja sein, daß es stimmt, was da steht«, seufzte Mr. Feeney. »Ich kann Ihnen nur eins sagen - daß es 'ne gute Sache ist, rein gar nix über einen selbst zu wissen — ob man verheiratet war oder nich, wer einem was Böses angetan hat und lauter solche Sachen. Müssen 'ne Menge Leute gewesen sein, die mir was angetan haben, aber ich krieg' sie nich mehr zusammen. Ich muß auch an 'ner Menge Orte gewohnt haben, aber auch zu dem Thema meldet sich nix in meinem Kopf.

Alles, was ich weiß«, fuhr Mr. Feeney glücklich fort, »is, daß ich eines nachmittags hier aufgewacht bin und alle mich gut behandelt haben. Dreimal am Tag 'ne anständ'ge Mahlzeit, und jeder lacht über meine Witze. Ich bin ein bißchen zu alt für meinen eignen Geschmack, aber ansonsten hab' ich keine Beschwerden. Und wenn Se sich für int'ressieren, wer ich bin, dann sind Se neugieriger drauf als ich selber.«  - Ben Hecht, 1001 Nachmittage in New York. Frankfurt am Main 1992 (it 1323, mit Zeichnungen von George Grosz, zuerst 1941)

Ich  (110)  Was genau es war, was Dr. Fischer quälte, gab niemand sich die Mühe herauszufinden. Aber eines Nachts erdrosselte der begabte Medikus seine Frau. Als er am Morgen verhaftet wurde, weigerte er sich zu sprechen. Auch während der ganzen Verhandlung öffnete der gute Doktor kein einziges Mal seinen Mund.

Zum Schluß sprach er doch, nur einmal. Das war auf dem Galgen, als der Strick ihm schon um den Hals lag und er gefragt wurde, ob er noch irgend etwas zu sagen habe, irgend etwas, das ihm die Seele erleichtern würde. Aus dem bedrängten Hals kam ein Räuspern, dann antwortete Dr. Fischer mit fester Stimme. »Das hier bin ich nicht.«  - Ben Hecht, 1001 Nachmittage in New York. Frankfurt am Main 1992 (it 1323, mit Zeichnungen von George Grosz, zuerst 1941)

Ich  (111)  Charakter einer mir bekannten Person. Ihr Körper ist so beschaffen, daß ihn auch ein schlechter Zeichner im Dunkeln besser zeichnen würde, und stände es in ihrem Vermögen, ihn zu ändern, so würde sie manchen Teilen weniger Relief geben. Mit seiner Gesundheit ist dieser Mensch, ohnerachtet sie nicht die beste ist, doch noch immer so ziemlich zufrieden gewesen, und er hat die Gabe, sich gesunde Tage zu nutze zu machen, in einem hohen Grade. Seine Einbildungskraft, seine treueste Gefährtin, verläßt ihn alsdann nie; er steht hinter dem Fenster, den Kopf zwischen die zwei Hände gestützt; und wenn der Vorübergehende nichts als den melancholischen Kopfhänger sieht, so thut er sich oft das stille Bekenntnis, daß er im Vergnügen wieder ausgeschweift hat. Er hat nur wenige Freunde; eigentlich ist sein Herz nur immer für einen gegenwärtigen, aber für mehrere abwesende offen. Seine Gefälligkeit macht, daß viele glauben, er sei ihr Freund; er dient ihnen auch, aus Ehrgeiz, aus Menschenliebe, aber nicht aus dem Triebe, der ihn zum Dienst seiner eigentlichen Freunde treibt. Geliebt hat er nur ein- oder zweimal; das eine Mal nicht unglücklich, das andere Mal aber glücklich. Er gewann bloß durch Munterkeit und Leichtsinn ein gutes Herz, worüber er nun oft beide vergißt, wird aber Munterkeit und Leichtsinn beständig als Eigenschaften seiner Seele verehren, die ihm die vergnügtesten Stunden seines Lebens verschafft haben; und könnte er sich noch ein Leben und noch eine Seele wählen, so wüßte ich nicht, ob er andre wählen würde, wenn er die seinigen wieder haben könnte. Von der Religion hat er als Knabe schon sehr frei gedacht, nie aber eine Ehre darin gesucht, ein Freigeist zu sein, so wenig als darin, alles ohne Ausnahme zu glauben. Er kann mit Inbrunst beten, und hat den neunzigsten Psalm nie ohne ein erhabenes, unbeschreibliches Gefühl lesen können. Ehe denn die Berge worden u.s.w. ist für ihn unendlich mehr, als: Sing, unsterbliche Seele u.s.w.

Für Assembleen sind sein Körper und seine Kleider selten gut, und seine Gesinnungen selten … genug gewesen. Höher als drei Gerichte des Mittags und zwei des Abends mit etwas Wein, und niedriger als täglich Kartoffeln, Aepfel, Brot und auch etwas Wein hofft er nie zu kommen. In beiden Fällen würde er unglücklich sein. Er ist noch allezeit krank geworden, wenn er einige Tage außer diesen Grenzen gelebt hat. Lesen und Schreiben ist für ihn so nötig, als Essen und Trinken, und er hofft, es werde ihm nie an Büchern fehlen. An den Tod denkt er sehr oft, und nie mit Abscheu; er wünscht, daß er nur alles mit so vieler Gelassenheit denken könnte, und hofft, sein Schöpfer werde dereinst sanft ein Leben von ihm abfordern, von dem er zwar kein allzu ökonomischer, aber doch kein ruchloser Besitzer war. - Lichtenberg

Ich  (112)  Ich beichtete bei einem fahrenden Priester. Von allen Geistlichen, die mich angehört haben, schenkte er mir als einziger Glauben und tröstete mich, ohne mich für einen Besessenen zu halten. Er riet mir, ich solle die Gesellschaft der Menschen, meiner Brüder, aufsuchen und ihnen ihre Sterblichkeit nicht neiden; wenn es mir möglich sei, solle ich sie lieben, wie mein Freund sie geliebt habe. Aber nein, es ist mir nicht möglich. Nichts ist mir wichtig an den Menschen. Früher, vor langer Zeit, suchte ich sie auf, wenn ich verzweifelte, danach aus Langeweile. Ich bin müde, ich habe fremde Sprachen gelernt und wieder verlernt. Ich habe Wissenschaften, Alchemie und Medizin und die Gestirne nebst ihrem Wandel in den Zeiten studiert. Ich habe mir die Botanik der Alten angeeignet, und Emilianus Palladius Rutilius hat mir Ackerbau beigebracht. Ich kenne jedes Tier der Erde, ja, selbst die winzigsten Insekten. Alle Künste fesselten mich, von der Musik bis zur Dichtung, und dennoch habe ich fast alles verlernt. Nur jene furchtbare Stunde, da mein Schicksal besiegelt ward, kann ich nicht vergessen. Seit damals steht die Zeit für mich still. Mein Körper altert nicht, in meinem Gesicht steht immer noch die leichte Blässe jenes Augenblicks, da es mich traf; keine Sonne bräunt meine Haut, kein Unfall kann mich versehren, keine Katastrophe löscht mich aus. Unwandelbar muß ich auf den vorherbestimmten Tag warten.  - María Esther Vásquez, Der Auserwählte. In: Argentinische Erzählungen. Stuttgart 1984 (Bibliothek von Babel, Bd.2, Hg. Jorge Luis Borges)

Ich  (113)  habe von meinen gallischen Ahnen das blau-weiße Auge, das enge Gehirn und die Ungeschicklichkeit im Kampfe. Ich finde meine Bekleidung ebenso barbarisch wie die ihrige. Aber ich reibe mir das Haar nicht mit Butter ein.

Die Gallier waren die dümmsten Tierschinder und Kräuterbrenner ihrer Zeit.

Von ihnen habe ich die Idolatrie und die Liebe zu Sakrilegien geerbt; — oh! Alle Laster, Zorn, Geilheit, — herrlich, die Geilheit; — vor allem Lüge und Faulheit. - Arthur Rimbaud, Eine Zeit in der Hölle. Nach (rim)

Ich  (114)  Kein Verbrechen war nur fremd, keine Ruchlosigkeit unbekannt, vor keinem Terror schreckte ich zurück. Ich tötete mit raffinierten Foltern unschuldige Alte, vergiftete das Wasser ganzer Städte, zündete zugleich die Haarpracht einer Vielzahl von Frauen an, ich zerriß mit den Zähnen, wild geworden durch den Vernichtungswillen, alle Kinder, die mir über den Weg liefen. Nachts suchte ich die Gesellschaft riesiger, schwarzer, zischender, den Menschen nicht mehr bekannter Monster; ich nahm an unglaublichen Unternehmungen von Gnomen, Kobolden und Gespenstern teil; ich stürzte mich aus der Höhe eines Berges hinab in ein nacktes, verwüstetes, von Höhlen voll weißer Knochen umgebenes Tal; und die Hexen lehrten mich den Schrei hungriger Raubtiere, der nächtens selbst die Stärksten erschaudern läßt. Doch es scheint, als habe der, der mich träumt, keine Angst vor dem, was euch Menschen erzittern läßt. Entweder genießt er den Anblick der schrecklichsten Dinge, oder aber er kümmert sich nicht darum und erschrickt somit auch nicht. Bis zum heutigen Tage ist es mir nicht gelungen, ihn zu wecken, und so muß ich weiterhin dieses unwürdige, servile und irreale Dasein fristen. - Giovanni Papini, Der letzte Besuch des Kranken Gentleman. In. G.P., Der Spiegel auf der Flucht (Spiegelfluchten). Stuttgart 1983. Die Bibliothek von Babel Bd. 19, Hg. Jorge Luis Borges

Ich  (115) Ich bin gerade vierunddreißig Jahre alt geworden, die Hälfte des Lebens. Körperlich bin ich mittelgroß, eher klein. Ich habe braune Haare, kurz geschnitten, damit sie sich nicht in Locken legen, auch aus Furcht vor einer beginnenden Kahlköpfigkeit. Soweit ich es beurteilen kann, sind die charakteristischen Züge meiner physiognomischen Erscheinung: ein sehr steiles Genick, das vertikal wie eine Mauer oder eine Steilküste abfällt, klassisches Erkennungszeichen (will man den Astrologen Glauben schenken) der unter dem Zeichen des Stieres Geborene; eine entwickelte, ziemlich bucklige Stirn mit übertrieben knotig hervorstehenden Schläfenadern. Diese breite Stirn steht (nach der Lehre der Astrologen) mit dem Zeichen des Widders in Beziehung; tatsächlich bin ich an einem zwanzigsten April geboren, also gerade an der Grenze dieser beiden Zeichen: des Widders und des Stieres. Meine Augen sind braun, die Lidränder gewöhnlich entzündet; meine Gesichtsfarbe ist lebhaft; ich schäme mich einer ärgerlichen Neigung zum Rotwerden und zum Hautglanz. Meine Hände sind mager, ziemlich behaart, mit sehr ausgeprägten Adern; meine beiden Mittelfinger sind an den Enden gekrümmt und müssen wohl irgendeine Schwäche oder Nachgiebigkeit in meinem Charakter bezeichnen. Mein Kopf ist reichlich groß für meinen Körper; im Verhältnis zu meinem Rumpf habe ich etwas kurze Beine, und die Schultern sind zu schmal im Verhältnis zu den Hüften. Ich gehe mit vorgebeugtem Oberkörper; wenn ich sitze, habe ich die Neigung, den Rücken krumm zu halten; meine Brust ist nicht sehr breit, und ich habe kaum Muskeln. Ich kleide mich gern mit einem Höchstmaß an Eleganz.  - (leiris3)

 Ich  (116)  Ich will mit den Worten schließen, daß ich mehr Kraft als Schwäche zu haben glaube. Obwohl ich unter körperlicher Schwäche leide, verlängert durch verhaßte Diätvorschriften, habe ich dennoch die Kraft zu versuchen noch weiterzuleben, um mein Buch zu beenden. Obwohl ich zu schwach bin, auch nur eine Zeile ohne Schmerzen zu schreiben, habe ich doch die Kraft, fünf Seiten zu schreiben, um einen Irrtum zu widerlegen. Obwohl ich zu schwach bin, mich zu erheben, werde ich nicht sagen, es sei ein Zeichen der Starke, daß ich dennoch gern mein Bett verlasse, um mich zu duellieren, denn ein Duell ist ein Vergnügen für mich, das mir Flügel verschafft anstelle meiner versagenden Beine. Obwohl ich so schwach bin, daß ich weiß, was ich mit einem Ausgang aufs Spiel setze, habe ich trotzdem die Kraft, es auszuführen.  - Marcel Proust an Jacques Boulenger , nach: Wilhelm Genazino, Achtung Baustelle. Frankfurt am Main 1998

 Ich  (117)

 Ich  (118)  18 März 1819 Traum: (Vorher die Geschichte wie ich einmal Nachts nach ernstem Gespräch den Oertel ansehe und er mich und uns beide vor unserm Ich schaudert) So sagt' ich zu Göthe, indem er fort ging: nach dem Tod lernt man doch das Ich wenigstens. Er blickte mich mit vorquellenden Augen an und ich schauderte wie damals. - (idg)

 Ich  (119)

 Ich  (120)  Ich, Gal, unwirklich zusammengeballter Knäuel tödlicher Widersprüche, Individuum geheißen: Wunschbündel ohne Grenzen, wie Calmare und Tentakel, damit tastend im Zeit-Raum. Doch vielleicht, vielleicht: bin ich wirklicher Ich -als alle die Ändern, die nie ihre Ungeheuerlichkeit, nie hinter enggepreßter Tagesform Dasein -die umheimliche Larvenheit spüren, längst gedichtet von alten Dichtern. Schamhaft-schamloser Abglanz. Die Zeit ist hohl, und mich, Jonas, verschlingt sie, ein Walfisch.   - Raoul Hausmann, Hyle. Nach: Adelheid Koch: Ich bin immerhin der größte Experimentator Österreichs. Raoul Hausmann - Dada und Neodada. Salzburg 1994

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VB
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Synonyme
Zentrum