ch  (61)   Ich fand noch Fremdes in meinem Innern. Da fand ich zu meinem Schrecken, daß mein Ich aus unzähligen ›Ichs‹ zusammengesetzt war, von denen immer eines hinter dem andern auf der Lauer stand. Jedes folgende erschien mir größer und verschlossener; die letzten entschwanden meinem Begreifen im Schatten. Jedes dieser Ichs hatte seine eigenen Ansichten. So war zum Beispiel vom Gesichtspunkt des organischen Lebens die Auffassung des Todes als Ende richtig, auf einer höheren Stufe der Erkenntnis gab es den Menschen überhaupt nicht, da konnte nichts zu Ende sein. Allgegenwärtig war der rhythmische Pulsschlag Pateras, er wollte, unersättlich in seiner Einbildungskraft, immer alles zugleich, die Sache — und ihr Gegenteil, die Welt — und das Nichts. Dadurch pendelten seine Geschöpfe so hin und her. Dem Nichts mußten sie ihre eingebildete Welt abringen und von dieser eingebildeten Welt aus das Nichts erobern. Das Nichts war starr und wollte nicht, dann fing die Einbildungskraft an zu summen und zu schwirren, und in allen Skalen formte, tönte, roch und färbte es sich — da war die Welt da. Aber das Nichts fraß alles Geschaffene wieder auf, da wurde die Welt matt, fahl, das Leben verrostete, verstummte und zerfiel, war wieder tot — nichts —; und wieder fing's von vorne an. So war's erklärlich, warum sich alles ineinander fügte, ein Kosmos möglich war. Das alles war furchtbar mit  Schmerz durchwebt. Je höher man wuchs, desto tiefer mußte man wurzeln. Will ich Freuden, dann will ich zugleich Leid. Nichts — oder alles. In der Einbildungskraft und dem Nichts mußte der Urgrund liegen, vielleicht waren sie eins. Wer seinen Rhythmus erfaßt hat, der kann ungefähr berechnen, wie lange Qual oder Leid für ihn dauern kann. Der Irrsinn, der Widerspruch müssen mitgelebt werden. Der Brand meines Hauses ist Unheil und Flamme zugleich. Der Leidende möge sich damit trösten, daß beides eingebildet ist.

Durch den verwandten Pulsschlag verstand ich auch die niedern Wesen. Ich wußte genau: dieser Kater hat schlecht geschlafen, jener Stieglitz hegt gemeine Gedanken. Diese Spiegelungen in mir regelten nun mein Tun und Lassen. Der Lärm der Außenwelt hatte meine Nerven gerade so lange gepeitscht und empfindlich gemacht, bis sie für die Erlebnisse der Traumwelt reif waren.

Am Ende dieser Entwicklungen hat der Mensch als Einzelwesen aufgehört, man braucht ihn auch nicht mehr.  - Alfred Kubin, Die Andere Seite. München 1975 (zuerst 1909)

Ich  (62)   Für einige Minuten saß ich, betrachtete mein Spiegelbild und dachte an die Gesetze der Zeit, als sich im Wasser ein anderes Gesicht neben dem meinen abzuzeichnen begann. Ich wandte mich heftig zur Seite. Ein Mann hatte sich an meine Seite gesetzt, und sein Spiegelbild erschien neben meinem im Wasserbecken. Ich betrachtete ihn verträumt — betrachtete ihn wieder, und es schien, als ähnelte er mir ein wenig. Ich blickte dann erneut in das Wasserbecken und betrachtete dort sein Spiegelbild, welches sich über dem dunklen Grund abzeichnete. In diesem Augenblick wurde mir klar: Sein Spiegelbild ähnelte ganz genau dem meinen von vor sieben Jahren!

Zu anderen Zeiten hätte mich dies vielleicht erschreckt, und ich hätte ganz bestimmt geschrien wie einer, der in einen Kreis unentrinnbarer Besessenheit hineingeraten ist. Aber ich wußte inzwischen, daß nur das Unmögliche manchmal Realität wird, und deshalb war ich überhaupt nicht erschrocken. Ich hielt dem Mann meine Hand entgegen, der sie drückte, und ich sagte zu ihm:

«Ich weiß, daß du Ich bist — ein schon lange nicht mehr existierendes Ich, ein Ich, das ich längst tot glaubte und nun hier wiederfinde, so, wie ich es zurückgelassen hatte, ohne sichtbare Veränderung. Ich weiß nicht, mein vergangenes Ich, was du von meinem jetzigen Ich willst, aber was auch immer du verlangst, vielleicht werde ich es dir nicht verweigern können. »

Der Mann betrachtete mich mit einem erstaunten Blick, als sei ich ihm neu, und antwortete nach einem gewissen Zögern:

«Ich möchte ein wenig bei dir bleiben. Als du endgültig abzureisen glaubtest, bin ich hier geblieben, in dieser Stadt, in der die Zeit nicht vergeht, ohne mich zu bewegen, ohne etwas zu tun, und habe auf dich gewartet. Ich wußte, daß du wiederkehren würdest. Du hattest den feineren Teil deiner Seele im Wasser dieses Beckens zurückgelassen, und von dieser Seele habe ich bis zum heutigen Tage gelebt. Nun aber möchte ich mich wieder mit dir vereinen, möchte wieder eng mit dir zusammen sein, mit dir leben und von dir hören, wie es dir in diesen Jahren deines Lebens ergangen ist. Ich bin so, wie du seinerzeit warst, und ich weiß von dir nicht mehr, als du damals von dir wußtest. Du wirst meine Begierde verstehen, zu erfahren und zu hören. Nimm mich wieder als deinen Kameraden, ehe du erneut diese von der Welt und von der Zeit verbannte Stadt verläßt.»  - Giovanni Papini, Der Spiegel auf der Flucht. (Die Bibliothek von Babel Bd. 19, Hg. Jorge Luis Borges) Stuttgart 1984

Ich  (63)   Ich gestehe, daß mein Problem hier ein bißchen jenes des Schauspielers ist, der plötzlich den Text seiner Rolle vergessen hat und gezwungen ist, die Repliken zu erfinden, oder sich schlecht und recht bei den Zuschauern zu entschuldigen. Die Frage, die Lucien Kra mir stellt, übersteigt aus tausend Gründen meine Kräfte; der vorherrschende ist eine Scham, welche mich daran hindert, von mir selber zu sprechen. Alles, was ich sagen könnte, wäre darüber hinaus falsch Das einzig Exakte wäre mein Geburtsdatum. Aber auch da könnte eine Laune mich veranlassen, mich als jünger oder älter hinzustellen. Wer könnte im übrigen dem Vergnügen widerstehen, seinen Lebenslauf mit großen Ereignissen und Albernheiten zu füllen- etwa von der Lust zu schreiben im Alter von acht Jahren, einer unverstandenen Jugend, einer blendenden oder mittelmaßigen Schullaufbahn, Selbstmordversuchen, von einer Glanzleistung im Krieg, einer fast tödlichen Verwundung, einer Verurteilung zum Tode in einem Kriegsgefangenenlager und der Begnadigung am Vorabend der Hinrichtung. Am weisesten, so glaube ich, ist es, gar nicht erst anzufangen. - Emmanuel Bove 1927, nach: E.B., Armand. Frankfurt am Main 1993 (zuerst 1924)

Ich  (64)  Porträt des J.-P. Lucas, von ihm selber:

Der Erfinder der Quadratur des Kreises ist von der Natur nicht nur in bezug auf seine intellektuellen Fähigkeiten begünstigt worden, sondern sie hat ihn auch mit großen physischen Vorzügen ausgestattet; er erfreut sich einer robusten Konstitution, obgleich sein Äußeres das Gegenteil anzuzeigen scheint; er besitzt einen durchdringenden Blick, sein Geschmack ist ausgezeichnet, sein Geruchssinn überaus empfindlich, sein Gehör fein und sein Tastsinn delikat; seine körperliche Kraft ist beachtlich, wenn man seinen Körperbau berücksichtigt, der schmächtig zu sein scheint, und das ist so wahr, daß er am selben Tag fünfundzwanzig Meilen zu Fuß zurücklegen und am nächsten Tag wieder loslegen kann; er hat sich außerdem überlegen allen gymnastischen Spielen gewidmet, zur großen Enttäuschung seiner Gegner.

Die Natur hat ihn auch mit großer Geschicklichkeit ausgestattet, da es ihm möglich ist, sich erfolgreich jeder gewünschten künstlerischen Arbeit zu widmen; denn es ist gut, daß Sie es hier erfahren, Leser, die Natur liebt und beschützt die Künste. Mit neun Jahren war er Schmied; er ist Zimmermann geworden, Stellmacher, Schreiner, Mechaniker, Schiffsbauer (denn er hat Modelle gebaut), Bildhauer, Holz-und Metalldreher, er ist Maurer, Steinmetz, Werkmeister, Kupferschmied, Glaser, Dekorateur, Maler, Zeichner, Architekt, Lithograph, Schneider, sogar Schuster, da es ihm gelungen ist, den nahtlosen Schuh herzustellen; und als er sein Buch setzen ließ, hat er sogleich die Möglichkeit erkannt, die Buchstaben in den Winkelhaken zu setzen, ohne sie zu berühren, ein Verfahren, das es schon gab, von dem er aber nichts wußte. Keiner dieser Vorteile kann ihm streitig gemacht werden, da er Beweise dafür geliefert hat; doch er hat nie etwas gelernt; er braucht nur zuzusehen, wie es gemacht wird und sofort begreift er die Schwierigkeiten, die zu überwinden sind, macht sich ans Werk und hat Erfolg.

Er könnte sich erfolgreich mit Literatur, Geschichte, Politik befassen; er wird ebenso schöne und korrektere Verse schreiben als die aus der Feder der berühmtesten Dichter, ohne jedoch die Regeln zu kennen, die sie aufgestellt haben. Mit einem Wort, alles, was den anderen Menschen möglich ist, kann der Erfinder der Quadratur des Kreises machen, oft mit der gleichen Vollkommenheit, und er kann sie in bestimmten Fällen auch übertreffen. Der Teil aber, in dem er sich auszeichnet und dem er besonders zugetan ist, das sind die exakten Wissenschaften. Das einzige, was ihm unmöglich ist, ist das Studium der Fremdsprachen; daher sind seine Erfolge in Latein mehr als dürftig gewesen; die Ursache dafür ist in seiner ausgesprochenen Abneigung gegen alles, was fremd ist, zu finden, da er vom Charakter her und aus Prinzip außerordentlich national ist.

Unabhängig von all diesen Vorteilen besitzt der Erfinder der Quadratur des Kreises ferner auch Herzensqualitäten: er ist sensibel, ohne daß er sich den Anschein geben will; er ist von Natur aus und ohne es zu zeigen menschlich und findet sein Glück darin, gefällig zu sein; er ist schlicht und einfach in seinem Verhalten, seiner Kleidung und seiner Lebensart; er liebt seine Familie und ganz besonders seine Mutter, der gegenüber er es nur zweimal am schuldigen Respekt hatte fehlen lassen und das aus einem Grund, der nicht tadelnswert war. Lebhaft, ungestüm und sehr überlegen, haßt er die ungeschickten Widerspruchsgeister und wenn sie versuchen, ihm die Stirn zu bieten, gerät er außer sich vor Zorn und geht manchmal so weit, daß er zuschlägt. Aufrichtiger Freund der Wahrheit, bekämpft er die Lügner und die Heuchler und ganz besonders die Verderber und die Intriganten bis aufs Messer; schließlich schmettert er, ähnlich der Natur, deren lebendige Darstellung er ist, mitleidlos seine Feinde zu Boden und verzeiht ihnen ohne Groll, wenn sie ihr Unrecht zugeben . . . Sie müssen also zugeben, ob Sie es wollen oder nicht, daß der Erfinder der Quadratur des Kreises eine höhere intellektuelle Macht ist, da er die Tiefe der Gedanken mit der Feinheit, der Geschicktheit, der List und der Ausdauer vereint, denn er hat nicht nur das Problem gelost, das seine Unsterblichkeit sichert, und alle andern, die sich daraus ableiten, dann alle Figuren, die damit zusammenhangen, ausgedacht und dargestellt, sondern es ist ihm außerdem auch gelungen, alle Ratsei zu interpretieren, die ihm vorgelegt worden sind, so verfänglich sie auch gewesen sein mögen, und aus diesen gleichen Ratsein die Prinzipien der höchsten Moral abzuleiten, da diese Moral dazu bestimmt ist, dem wirklich tugendhaften Menschen als Fuhrer zu dienen, und schließlich hat er es verstanden, die Fallen, die seine Gegner ihm gestellt haben, gegen diese selber zu richten; mit einem Wort, er besitzt, unabhängig von den Fähigkeiten, die die Besonderheit des Menschen ausmachen, die Vorteile, deren sich die Tiere erfreuen, wobei er die Kraft und den Mut des Löwen mit der Vorsicht und Wachsamkeit des Wolfs, mit der Schlauheit und List des Fuchses und schließlich mit dem Willen und der Ausdauer der Schildkröte vereint, und dies aus dem einfachen Grunde, weil ihm die Natur, deren Prinzip sich auf alles Existierende erstreckt, diese gleichen Vorzuge mitgegeben hat.

. . Mein Werk wird immer bestehen bleiben und lediglich von der Hand des neuen Genies, das zu erschaffen der Natur in ferneren Zeiten gefallen mag, eine Erweiterung erfahren.

In einer Fußnote vermerkt er, daß das Jahr 4444 wahrscheinhch große Chancen hat, das Erscheinen dieses neuen Genies zu erleben, doch er kann es nicht ausdrücklich bestätigen.  - (lim)

Ich  (65) Ich fragte sie, was sie zu dieser Arbeit gebracht habe, die sie sich zur Lebensaufgabe gemacht hat.

Es war eine unglückliche Äußerung.

Sie sprang ruckartig auf, und ihre Arme vollführten weitausholend eine leidenschaftliche Geste. Es war die universale Geste des Mächtigen, sie tat Abscheu und Verachtung kund.

»Und so etwas fragen Sie mich?«, sagte sie. »Das ist die Frage, die vor Ihnen schon vierzig Millionen anderer Dummkopfe gestellt haben. Wie fangen der Donner oder der Blitz an? Wie fängt die Welt an - aus dem Kampf wird sie geboren. Ich bin aus dem Kampf geboren und aus der Qual und dem Schmerz. Ein Kind des Rades, ein Balg aus den Zahnrädern, eine Frau aus dem Staub. Denn selbst noch Eisen kennt Staub, und wenn ein Arbeiter seinen blutigen Schweiß schwitzt und seine blutigen Tranen weint, dann wird ein Hellmittel in die Welt geschleudert. Ich bin ein Heilmittel.

Wie können Sie also fragen und wie kann ich sagen, wann ich mich zu kümmern begann? Sie fragen das, weil wahrscheinlich nicht einer von euch Bescheid weiß,  ihr habt unsere Leben nicht gesehen, wie wir sie leben, da draußen in Colorado Wir können euch das erzahlen, und ihr könnt zuhören, doch noch nie ist eine Tragödie verstanden worden, die vom Mund zum Ohr ging. Sie muß vom Auge zur Seele gehen.«

Sie hatte die Rückenlehne des Stuhls mit der Hand umklammert und ließ sie nun mit einer solchen Heftigkeit los, daß sie nach vorn kippte.

»Hören Sie zu«, sagte sie, »Sie sind eine junge Frau, Sie haben nie den Anfang oder das Ende der Schöpfung gesehen. Ich habe Söhne geboren, ich habe den Tod gesehen. Ich komme unmittelbar aus dem Innern der Welt. Ich bin an der Unterseite der Uhr gewesen. Ich habe das Ticken mit meinem eigenen Herzen gehört, und ich weiß Bescheid!«

Nach dieser letzten Äußerung trat Schweigen im Zimmer ein, und ich sagte nichts Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß es in meiner Welt kein geeignetes Wort gab, das ich hatte sagen können - wußte, daß weder ein ›tz-tz‹ der Zunge noch ein ›Ist das nicht schrecklich‹ des Mundes irgend etwas bedeuten wurden.

Ich schaute sie einfach nur an, und sie erwiderte meinen Blick, und um ihren Mund hatte sich kaum merklich ein Ausdruck festgesetzt, der wie ein Nachdenken selber war, so als habe es seinen Platz hinter der Stirn zugunsten der Lippen verlassen. Ihr Mund ist kein Mund mehr, er ist eine Predigt.

»Und dann«, fuhr sie fort, »fragen die mich, wo ich herkomme, wo ich geboren bin. Was spielt das schon für eine Rolle? Was ändert das schon, ob ich nun Irin und aus Dublin bin oder Irin aus Cork oder daß ich überhaupt Irin bin? Es genügt, daß ich von dieser Welt bin. Ich bin ganz einfach Mary Jones aus den USA. Wenn mir das genügt, dann wird es auch euch genügen müssen.«  - Mother Jones, nach (barn)

Ich  (66)  Charakter einer mir bekannten Person   Ihr Körper ist so beschaffen, daß ihn auch ein schlechter Zeichner im Dunkeln besser zeichnen würde, und stünde es in ihrem Vermögen, ihn zu ändern, so würde sie manchen Teilen weniger Relief geben. Mit seiner Gesundheit ist dieser Mensch, ohnerachtet sie nicht die beste ist, doch noch immer so ziemlich zufrieden gewesen, er hat die Gabe, sich gesunde Tage zunutzen zu machen, in einem hohen Grade. Seine Einbildungskraft, seine treuste Gefährtin verläßt ihn alsdann nie, er steht hinter dem Fenster den Kopf zwischen die zwo Hände gestützt, und wenn der Vorbeigehende nichts als den melancholischen Kopfhänger sieht, so tut er sich oft das stille Bekenntnis, daß er im Vergnügen wieder ausgeschweift hat. Er hat nur wenige Freunde, eigentlich ist sein Herz nur immer für einen gegenwärtigen, aber für mehrere Abwesende offen, seine Gefälligkeit macht daß viele glauben er sei ihr Freund, er dient ihnen auch aus Ehrgeiz, Menschenliebe, aber nicht aus dem Trieb der ihn zum Dienst seiner eigentlichen Freunde treibt. Geliebt hat er nur ein- oder zweimal, das eine Mal nicht unglücklich, das andere Mal aber glücklich, er gewann bloß durch Munterkeit und Leichtsinn ein gutes Herz, worüber er nun oft beide vergißt, wird aber Munterkeit und Leichtsinn beständig als Eigenschaften seiner Seele verehren, die ihm die vergnügtesten Stunden seines Lebens verschafft haben, und könnte er sich noch ein Leben und noch eine Seele wählen, so wüßte ich nicht ob er andere wählen würde, wenn er die seinigen noch einmal wieder haben könnte. Von der Religion hat er als Knabe schon sehr frei gedacht, nie aber eine Ehre darin gesucht ein Freigeist zu sein, aber auch keine darin, alles ohne Ausnahme zu glauben. Er kann mit Inbrunst beten und hat nie den 90ten Psalm ohne ein erhabenes, unbeschreibliches Gefühl lesen können. Ehe denn die Berge worden pp ist für ihn unendlich mehr als; Sing unsterbliche Seele pp. Er weiß nicht was er mehr haßt, junge Offiziers oder junge Prediger, mit keinen von beiden könnte er lange leben. Für Assembleen sind sein Körper und seine Kleider selten gut, und seine Gesinnungen selten .... genug gewesen. Höher als drei Gerichte des Mittags und zwei des Abends mit etwas Wein, und niedriger als täglich Kartuff ein, Äpfel, Brot und auch etwas Wein, hofft er nie zu kommen, in beiden Fällen würde er unglücklich sein, er ist noch allzeit krank geworden, wenn er einige Tage außer diesen Grenzen gelebt hat. Lesen und Schreiben ist für ihn so nötig als Essen und Trinken, er hofft es wird ihm nie an Büchern fehlen. An den Tod denkt er sehr oft und nie mit Abscheu, er wünscht daß er an alles mit so vieler Gelassenheit denken könnte, und hofft sein Schöpfer wird dereinst sanft ein Leben von ihm abfordern, von dem er zwar kein allzu ökonomischer, aber doch kein ruchloser Besitzer war. - (licht)

Ich  (67)   Ich wurde als italienischer Untertan geboren, wurde mit sechs Jahren für zehn Jahre Österreicher, war dann sieben Jahre lang deutscher Staatsbürger und bin seit 1945 wieder Österreicher und als solcher und auch als Humorist nicht besonders heiter, und überhaupt machen mich lustige Leute eher melancholisch. Ein besonders engagierter Mensch bin ich nicht. Mir kommt es hauptsächlich darauf an, möglichst gute Zeichnungen zu machen, mich bei der Arbeit an diesen zu amüsieren und dafür womöglich noch bezahlt zu werden.

Ich bin ein gewöhnlicher Egoist, was die anderen und besonders die engagierten Leute ja auch sind. Fortschrittlich bin ich leider nicht. Das fällt mir um so leichter, als nicht einmal die fortschrittlichen Menschen fortschrittlich sind, dies aber sorgfältig verbergen… Es ist mir sehr lieb, wenn Gesellschaften aus nicht mehr als sechs Personen bestehen, und ich gehe gerne im Wald und im Gebirge spazieren.

Aufregende Liebhabereien, außer dem Sammeln von Bildern, pflege ich nicht. Ich lese gerne, besonders Selbstzeugnisse, Biographien und historische Werke. Je mehr ich mir historische Kenntnisse aneigne, desto sicherer bin ich, daß es keinen Fortschritt auf der Welt gibt und daß sich lediglich in Intervallen die Dummheiten und die Gescheitheiten, letztere leider viel seltener, wiederholen. - Paul Flora, Dies und das

Ich  (68)  Dem anderen, Borges, passiert immer alles. Ich schlendere durch Buenos Aires und verweile mich, vielleicht schon unwillkürlich, um ein geschwungenes Hoftor und das Türgatter zu betrachten; von Borges erhalte ich Nachrichten durch die Post und erblicke seinen Namen in einem Professorenkolleg oder in einem biographischen Lexikon. Ich habe Spaß an Sanduhren, an Landkarten, an der Typographie des 18. Jahrhunderts, an dem Aroma von Kaffee und an der Prosa Stevensons; der andere teilt zwar diese Vorlieben, aber in aufdringlicher Art, die sie zu Attributen eines Schauspielers macht. Es wäre übertrieben zu behaupten, daß wir auf schlechtem Fuß miteinander stünden; ich lebe, ich lebe so vor mich hin, damit Borges seine Literatur ausspinnen kann, und diese Literatur ist meine Rechtfertigung. Ich gebe ohne weiteres zu, daß ihm hie und da haltbare Seiten gelungen sind, aber diese Seiten können mich nicht retten, vielleicht weil das Gute schon niemandes Eigentum mehr ist, auch nicht des anderen Eigentum, sondern der Sprache oder der Tradition angehört. Im übrigen bin ich dazu bestimmt, mich zu ruinieren, und nur irgendeiner meiner Augenblicke wird in dem anderen fortzuleben vermögen. Allmählich trete ich ihm alles ab, obwohl mir seine widerwärtige Art, zu verfälschen und zu vergrößern, bekannt ist. Spinoza war der Auffassung, daß alle Dinge in ihrem Sein beharren wollen; der Stein will bis in alle Ewigkeit Stein und der Tiger Tiger sein. Ich muß in Borges verbleiben, nicht in mir (sofern ich überhaupt jemand bin), aber ich erkenne mich in seinen Büchern nicht so sehr wieder wie in vielen anderen oder wie im beflissenen Gezupf einer Gitarre. Vor Jahren wollte ich unser Verhältnis lösen; von den Mythologien der Außenviertel ging ich zu den Spielen mit der Zeit und mit dem Unendlichen über, doch treibt heute Borges diese Spiele, und ich werde mich nach etwas anderem umsehen müssen. So ist mein Leben eine Flucht, und alles geht mir verloren und fällt dem Vergessen anheim oder dem anderen. Ich weiß nicht einmal, wer von uns beiden diese Seite schreibt.  - J. L. Borges, nach: Einsicht ins Ich. Fantasien und Reflexionen über Selbst und Seele.  Hg. Douglas R. Hofstadter und Daniel C. Dennett.  München 1992

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Bewußtsein

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VB
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Synonyme
Zentrum