ch, lyrisches  Wie soll man da leben? Man soll ja auch nicht. Vasomotorisch labil, neurotisch inkontinent, ecce am Kadaver und ecce an der Apokalypse, Schizothymien statt Affekte, statt Fruchtbarkeit Aborte in alle Himmelsstriche, autopsychisch solitär, faulig monokol, polyphemhaft an den Hammelstücken, die ihre Beute unten tragen: am Bauch, nicht an den absoluten Graten; siebenunddreißig Jahre und total erledigt, ich schreibe nichts mehr - man müßte mit Spulwürmern schreiben und Koprolalien; ich lese nichts mehr - wen denn? die alten ehrlichen Titaniden mit dem Ikaridenflügel im Stullenpapier? ich denke keinen Gedanken mehr zu Ende, rührend das Bild des Abendländers, der immer noch und immer wieder, und bis der Okzident in Schatten sinkt, dem Chaos gegenübertritt mit seiner einzigen Waffe, dem Begriff, der Schleuder, davidisch, mit der er um sein Leben kämpft, - aber Dämmerung über die formalen Methoden, ich streife die Vorstellung einer Funktion außerhalb der Psychologie ewig latenter Antithesen - syndikalistisch-metaphys.

Einige Jahre später. Neue Arbeiten, neue Versuche des lyrischen Ich. Digestive Prozesse, heuristische Kongestionen, transitorische monistische Hypertonien zur Entstehung des Gedichts. Ein Ich, mythen-monoman, religiös, faszinär:

Gott ein ungünstiges Stilprinzip, aber Götter im zweiten Vers etwas anderes wie Götter im letzten Vers - ein neues ICH, das die Götter erlebt: substantivistisch suggestiv. Es gibt im Meer lebend Organismen des unteren zoologischen Systems, bedeckt mit Flimmerhaaren. Flimmerhaar ist das animale Sinnesorgan vor der Differenzierung in gesonderte sensuelle Energien, das allgemeine Tastorgan, die Beziehung an sich zur Umwelt des Meers. Von solchen Flimmerhaaren bedeckt stelle man sich einen Menschen vor, nicht nur am Gehirn, sondern über den Organismus total. Ihre Funktion ist eine spezifische, ihre Reizbemerkung scharf isoliert: sie gilt dem Wort, ganz besonders dem Substantivum, weniger dem Adjektiv, kaum der verbalen Figur. Sie gilt der Chiffre, ihrem gedruckten Bild, der schwarzen Letter, ihr allein. - Gottfried Benn, Epilog und lyrisches Ich, zuerst ca. 1922, u. ö.

Ich, lyrisches (2)  „Ich erklär's Ihnen gleich genauer... wenn Sie ein Salonkünstler sind, für Salons, für Kirchenclubs, für Zellen, für Botschaften, für Kinos, wie treten Sie dann auf? ... im Frack, klar! ... in schöner Uniform! ... das ist selbstverständlich! als Kitschist!... das ist ein Muß!... aber wenn Sie nun als Lyriker klassifiziert sind? ... als Lyriker geboren? ... wirklich lyrisch! ... dann geht das nicht mehr! ... da gibt's kein Kostüm für Ihr Naturell!... mit entblößten, zum Zerreißen gespannten Nerven, so müssen Sie losgehen und auftreten!... Ihre Nerven entblößt und zum Zerreißen gespannt! ... Ihre! ... nicht die Nerven der anderen!... oh nein, die nicht! um Ihre geht's! ... das ist mehr als ausgezogen! ... entblößt! ... mehr als 'splitternackt'! ... und Ihr ganzes 'Ich' voran! ... vorwärts! ... und keine Betrügereien!"

„Ich notiere."

„Genau, Oberst! die Schamlosigkeit! der Exhibitionismus!"

„Eine schöne Geschichte!"

„Oh! das ist das Ende aller Schmierenkomödianten!"

„Aber Sie, Sie sind doch noch Erfinder obendrein?"

„Sicher!... man nimmt mich zur Genüge aus! man beweist es mir! ... man würde mich auch noch als Lyriker durchgehen lassen ... aber ein Lyriker, der komisch ist? ... da komm ich nicht drumrum!... da geht's um Mord!"

„Das Lyrische ist nicht sehr französisch ..."

„Da haben Sie recht, Oberst! die Franzosen sind so eitel, daß sie daß 'Ich' des anderen sofort in Rage bringt!..."

„Und die Engländer? ... und die Deutschen? ... und die Dänen?... sind die auch so widerborstig gegen das 'Ich'?... gegen das 'Ich' des anderen? ... wie Sie sagen? ..."

„Nun! wenn ich so darüber nachdenke ... daran denke ... so sind sie vielleicht heimtückischer... diskreter ... das ist alles! ... nicht so nervös ... aber es ist eine universelle Tatsache: niemand liebt das 'Ich' des anderen!... Chinesen, Walachen, Sachsen, Berber!... Jacke wie Hose!... wie bei der Scheiße, ist es Ihnen mal aufgefallen?... jeder bringt es fertig, sich für den Geruch seiner eigenen Scheiße zu begeistern, aber der Geruch der Scheiße von Estelle, die Sie anbeten, wie Sie sagen, ist Ihnen wesentlich weniger angenehm!..'. 'Luft! Luft!', schreien Sie sofort..."

„Sie sind wirklich ein Stinklappen aus System!... Ihre Lyrik ist nichts weiter als ein Vorwand ..."    - Louis-Ferdinand Céline. Gespräche mit Professor Y. Hamburg 1986 (Edition Nautilus. Zuerst 1955)

Ich, lyrisches (3)  Das lyrische Ich ist ein durchbrochenes Ich, ein Gitter-Ich, fluchterfahren, trauergeweiht. Immer wartet es. auf seine Stunde, in der es sich für Augenblicke erwärmt, wartet auf seine südlichen Komplexe mit ihrem „Wallungswert", nämlich Rauschwert, in dem die Zusammenhangsdurchstoßung, das heißt die Wirklichkeitszertrümnierung, vollzogen werden kann, die Freiheit schafft fürdas Gedicht - durch Worte.   - Gottfried Benn, Probleme der Lyrik (1951), in: G.B., Essays, Reden, Vorträge. Wiesbaden 1965
 
Ich Gedicht
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