undeseele  An einem Sonntag im Juni begann ein Hund namens Bobi, der einen Herrn hatte und doch wieder nicht, eine ausschweifende, aber durch zahlreiche Pausen unterbrochene Runde durch die Straßen einer italienischen Stadt. Es war in den ersten Nachmittags stunden, nur wenige Menschen waren unterwegs, vielleicht schliefen sie oder waren im Kino oder machten einen Ausflug auf die Hügel. Die Glocken einer romanischen Kirche erklangen hell, aber weniger hell als am Morgen, der Ton drang in die langen, schattigen Arkaden einer alten, menschenleeren Straße, durch die der Hund mit kleinen Sprüngen lief. Bis jetzt hatte er auf einem Hinterhof in einem Unterschlupf aus großen Nudelkartons von Barilla auf die Rückkehr des Mannes gewartet, den er für sein Herrchen hielt (der Mann, der ihm den Unterschlupf gebaut hatte, ohne sich allerdings darüber hinaus auf ihn einzulassen), aber dieser, der so gut wie niemals kam, kam auch heute nicht, und so fühlte sich Bobi, wenn auch schweren Herzens, moralisch gerechtfertigt, auf Tour zu gehen.

Er wurde von nur einem Bedürfnis (dem Hunger), aber von zahlreichen Gefühlen angetrieben: Zuallererst von dem unwiderstehlichen Reiz, in unterschiedlichsten Kombinationen eine größtmögliche Anzahl von Gerüchen zusammenzusammeln; außerdem von Langeweile, die bei Hunden anders, aber doch nicht so anders ist als bei Menschen; und von dem Wunsch nach Gesellschaft; und von Eigenliebe, die durch die Haltung seines Herrn verletzt worden war, den er liebte, ohne je sicher gewesen zu sein, daß diese Liebe erwidert wurde; schließlich von seiner Fröhlichkeit, die von seinen gut drei Vierteln blauen Bluts herrührte. Bobi war ein Bastard, aber >in seinen Adern< floß ein großer Anteil Blut eines Terriers mit glattem Fell und nur ein winziger Anteil von Unreinheit, der vor allem von kurzbeinigen Hunden stammte. In ihm hatte der Cocktail ein gutes Ergebnis hervorgebracht, das Überlegenheitsgefühl des Rassehundes hatte gegenüber dem Minderwertigkeitskomplex des Bastards beinahe die Oberhand gewonnen. So lief Bobi auf kurzen Beinen, aber mit hocherhobenem Haupt herum. Oft trabte er voller Ausgelassenheit daher, nur manchmal galoppierte er wie jemand, der die unabsehbaren Folgen einer unsicheren Abstammung fürchtet.

Von dem Terrier mit glattem Fell hatte Bobi eine der wichtigsten Eigenschaften geerbt, nämlich bei Erregung zu zittern, und die Fähigkeit, aus dem Stand von unten plötzlich senkrecht nach oben zu springen, was allein durch einen nervlichen Impuls ausgelöst wurde. Dank dessen hatte ein Mann von unstetem Wesen, aber fähig zu spontaner Sympathie und Abneigung ihn (eines Tages) höchst sympathisch gefunden, hatte ihm eine Hundehütte aus Kartons gebaut, und manchmal ging er mit ihm spazieren (jedoch ohne Hundeleine, wie Bobi es sich gewünscht hätte) und kümmerte sich um ihn, wenn auch sehr vage. Dennoch war Bobi, vielleicht aus den erwähnten Gründen, vielleicht aber viel einfacher wegen seines Charakters, kein glücklicher Hund. Er war jedoch sehr kräftig und hochintelligent (auf jeden Fall verstand er das Leben), und wegen dieser beiden Eigenschaften zusammen war er ›im Grunde genommen‹ gut. Er war kein Snob wie alle Rassehunde, aber er war auch nicht weinerlich oder aufbrausend oder allzu glückheischend wie alle Bastarde; er war ›unabhängig‹.

Der Hunger hatte ihm nie Schwierigkeiten bereitet, immer hatte er bereitwillige Wohltäter gefunden; fehlten ihm die Wohltäter, gab es immer noch Mülltonnen, in denen Bobi mit der langen Schnauze des Fuchsaufstöberers (es scheint fast, als hätten die Terrier ihren gesellschaftlichen Aufstieg vor vielen tausend Jahren so begonnen) in einem Augenblick die besten Sachen aufspürte, wobei er alles durch die Luft schleuderte. An diesem Tag sah er, wie zwei Katzen, eine weiß und rötlich, die andere rötlich, von einem Fenster heruntersprangen. Er begriff alles sofort, verlor aber keineswegs die Fassung, vielmehr fiel er von einem wenig ernsthaften Galopp in einen ernsten und bedrohlichen Trab; aus einem Fenster fiel eine nasse Tüte, die am Boden aufplatzte, voller Spaghetti. In diesem Augenblick sahen die beiden halbkahlen Katzen einen Hund, der mit einem Gejaule, als würde er abgeschlachtet (Terriererbe), im gestreckten Galopp auf die Tüte zuflog. Die beiden Katzen verschwanden mißmutig, Bobi fraß alles in Ruhe auf, ohne sich um die Protestrufe der Alten zu kümmern, die oben am Fenster stand und zwei Eimer Wasser über ihm ausgoß.

Als er die ganze Tüte aufgefressen hatte, trottete er weiter, lief um eine Ecke, dann um eine weitere und stieß auf die erste Unannehmlichkeit: Ein echter Terrier mit glattem Haar, den er vom Sehen kannte, stand da, etwa zwanzig Meter von ihm entfernt, an der Leine gehalten von einem äußerst liebevollen Herrchen, einem Verrückten mit einer dicken Brille, der wie schon manches Mal auf Bobi zeigte und schrie: »Schau, Biri, dein Feind!« Ein höllisches Gebell brach los, Biris Herrchen lachte schallend, aber es dauerte nicht lange, weil Bobi nur der Form halber heulte und sich dann verzog; nachdem er um zwei oder drei Ecken gelaufen war, kam er ruhig zurück. Er kannte eine Stelle, ein Holzlager im Freien und eine aufgelassene Kirche, wo sich Hunde versammelten, aber es war keiner da, er schnüffelte längere Zeit herum, fand aber keine frischen Spuren.

Also lief er in Richtung Park, einen gefährlichen Ort für Hunde wie ihn, dafür aber war er sicher, dort Gesellschaft zu finden; meistens waren dort Bekannte, eine Art >Mohr<, ein Räuberhund, der schon ein bißchen alt war, eine schwankende, feiste Halbblinde, eine unkenntliche

Mischung aus Krüppel und uralt, die Stadtverwaltung duldete sie (beide waren sie ungeheuer gierig auf Gerüche, aber dabei wahllos und ein wenig widerwärtig wie alle Alten), und eine überaus leichtfertige, ein wenig verrückte Hündin, die oft für Monate verschwand, und zwei Halbschnauzer, ?sehr intelligent und sympathische, die wer weiß wie lebten, vielleicht kümmerte sich jemand um sie. Aber an diesem Sonntag war nicht ein einziger Hund da, nur eine Militärkapelle spielte und erregte Bobi dermaßen, daß er bis zum Schluß blieb; dabei schnüffelte er zwischen den wenigen Zuhörern herum, sie hatten nichts dagegen.

Vom Park aus lief er in die großen Straßen der Stadt, in denen viele Fahnen gehißt waren, noch mehr Musikkapellen spielten und Männer in Uniform mitten auf der Straße gingen. In einer Einfahrt, die auf einen Hof führte, traf Bobi völlig unerwartet vier Hunde, die ebenso überrascht waren wie er. Nach einem Moment schlössen sie Freundschaft, eigentlich viel mehr als Freundschaft. Bis zu diesem Augenblick waren sie streunende Hunde gewesen und einander völlig unbekannt, und jetzt, wer weiß durch welchen Zufall im Schicksal aller Lebewesen, waren die fünf nicht mehr nur armselige hündische Objekte (drei von ihnen waren scheußlich, einer lief auf drei Beinen, die anderen waren zerfetzt von Raufereien und Bißwunden, die sich in den Mäandern ihrer Stammbäume verloren), sie waren vielmehr eine soziale Gruppe (sehr klein), ein historischer Faktor (ganz winzig, versteht sich), gewissermaßen der Entwurf zu einer politischen Organisation (hatte die Elite nicht schon immer aus wenigen bestanden?), vielleicht schon mit einem Programm, so schien es wenigstens. Da waren die Fahnen, die Musikkapellen, Männer marschierten in Uniform und sangen vielleicht sogar Hymnen, aber vor allem erfüllten die fünf Tiere einen Auftrag, sie gingen geschlossen im Trott auf der Mitte der Straße, die von Ratten angenagten Ohren im Wind, boten einen Anblick von Hoffnung und Vertrauen, der nicht Hunden, sondern höheren Wesen zukommt.

Sie verlebten zwei Stunden ›von enormer Bedeutung‹ nahmen, ohne je fortgejagt zu werden, an großen und kleinen Versammlungen teil, die im Lauf des Tages stattfanden. Zweimal wurden sie von Rassehunden gestört, das eine Mal von einem schwarzen Wolfshund, der sein Frauchen zu ihnen hinzerrte, aber nicht, um zu streiten, nur um beschnuppert zu werden und selber zu schnuppern; und das andere Mal von Zwillingen, fürchterlichen Rüden, zwei Dobermännern, zwei SS-Hunden, die von einem Jeep sprangen, um sie anzufallen. Aber zum Glück trugen sie Maulkörbe. Diese Erscheinung erschreckte sie sehr und erschütterte endgültig das Bündnis der fünf.

Sie flohen, so weit sie konnten. Sie fanden sich, ohne zu wissen wie, weit entfernt vom Stadtzentrum wieder, fast bei einer Autobahnauffahrt, ohne eine einzige all der Hoffnungen von kurz vorher. Sie waren nun wieder Hunde und sonst nichts.

Der Dreibeinige versuchte, noch etwas aus dem Sonntag zu machen (die Sonne ging jedoch bereits unter), mit zwei Dosen und der Verfolgung eines Abschleppwagens, aber keiner folgte ihm außer Bobi, der nach hundert Metern stehenblieb, betäubt von den Dieselabgasen. Er wich taumelnd aus, auf die rechte Seite des Abschleppwagens, und in dem Moment wurde er von einem Motorrad angefahren, das bremste, ins Schleudern geriet und dann weiterfuhr. Der Stoß tat ihm sehr weh, aber Bobi kam doch langsam, ganz langsam bei seinem Unterschlupf an, und dort starb er, ohne noch auf seinen Herrn zu warten, der nie kam.

Ganz zufällig kam am nächsten Tag sein Herrchen oder eben der Mann, der es nach Bobis Überzeugung war, dort vorbei. In tiefem, flüchtigem Schmerz erinnerte er sich an Bobi und so manche seiner Vergnügungen und fragte sich (oder sagte er es?) ein sehr schönes und seiner würdiges Wort: »Hunde haben eine Seele.« - Goffredo Parise, Alphabet der Gefühle. Berlin 1997 (zuerst 1972, 1982)

Hundeseele (2) Der Hund sieht nicht viele Menschen hier, sagt die Gutsherrin. Manche lehnt er ab. Er stößt sie um und »bricht sie in der Taille«. Damit meinte sie, daß er zubiß. Er sucht sich unter meinen Freunden einige aus, sagte die Frau, mit denen spielt er. Er lasse sie keinen Schritt tun, ohne ihnen zu folgen, sie zu umarmen und zu zwicken. Das bedeutete, daß der Bernhardiner (der Butzi hieß, sie hatte ihn als Wollknäuel in Kopfgröße des jetzigen Hundes gekauft) den Besucher umwarf, mit den kräftigen Vorderpfoten an den Oberschenkeln umklammerte und zubiß. Das Umklammern vermittelte einen geschlechtlichen Eindruck.

Die Gutsherrin bewohnte das sog. Herrenhaus. Sie hatte die 1 000 ha Grundfläche verpachtet, und sie war entschlossen, aus Liebe zu ihrem toten Vater nichts von diesem Besitz aufzugeben. Das zwang sie, in dieser Einöde auszuharren. Den Gedanken an den Vater zu wahren - eine in Grund und Boden verankerte Idee. Insofern war es ein teils verpachteter, teils auf schwierige Weise bewohnter Vater. Einige der Freunde gingen davon aus, daß die Seele des Vaters im Bernhardiner fortlebe.

Sie hatte beim Landrat die Ausnahmegenehmigung erwirkt, den Vater im Garten unter Erlen am Gebirgsfluß zu beerdigen. Daß er dort tatsächlich lag, war ihr nicht wichtig. Sie führte den Vater vielmehr in Form dieser großen Hundeseele mit sich, die störrisch und unbeherrschbar blieb wie der in ihr verkörperte Auftrag.

Nun aber gehörte nicht sie dem Hund, sondern dieser ihr. Das stand in Widerspruch zu der Tatsache, daß ihre Liebe dem Vater gehörte (er aber nicht ihr). Um das Mißverständnis zu vermeiden, war sie nicht bereit, höfliche Versicherungen abzugeben: ach, dieser Hund beißt nicht. Oder: er gehorcht mir. Vielmehr betonte sie seine objektive Gefährlichkeit, indem sie, sobald er anzugreifen drohte, heftig an seinen Zotteln zerrte, ihn auf den Rücken warf und besänftigend kraulte. Sie wies darauf hin, daß sie eine äußerste Gefahr für den Besucher abzuwenden suchte. Soweit ihre Kräfte gegenüber der im Hunde enthaltenen Naturgewalt ausreichten.

Mit der Zeit kamen immer weniger Besucher. Sie beschönigte nichts, sagte, er werfe nicht nur Kinder um, man dürfe den Hund nicht bis in die Nähe des Halses gelangen lassen. Etwas anderes zu sagen wäre auch unwahr gewesen. - (klu)

Hundeseele (3)  Mit dem Menschen lebt eine Katze immer in treuer Freundschaft, sobald sie von ihm ordentlich behandelt wird. Normalerweise bringt sie ihm nicht so viel Anhänglichkeit entgegen wie der Hund; wo man ihr aber dieselbe Sorgfalt und Liebe entgegenbringt wie diesem, wird auch ihre Anhänglichkeit an den Herrn nicht gegenüber der eines Hundes zurückstehen. Ein Hund, der sich selbst überlassen bleibt, ist ein pöbelhaftes Vieh. Ich habe das hundertfach in Ägypten gesehen, wo sich niemand der halbwild herumlaufenden Köter annimmt. Sie werden flegelhaft, tückisch, mißtrauisch und scheu. - Alfred Brehm

Hundeseele (4)  Wie oft habe ich festgestellt, daß Hunde den Charakter ihres Herrn annehmen: es ist so leicht, eine Hundeseele zu formen, ohne es überhaupt zu wollen. Aus diesem Grund hatte mein Hund auch nicht jene forsche Art, die gewissen Hunden intelligenter Menschen zu eigen ist, und begegnete er einem seinesgleichen, konnte man sehen, wie er ihm mit großer Vorsicht aus dem Weg zu gehen trachtete oder sich allenfalls beschnüffeln ließ, und dies immer mit jenem unsteten, aber dummen Blick, der auch der meine ist, wenigstens dann, wenn ich mich im Spiegel betrachte. Doch wo sein Herr nicht feige war, nämlich zu Hause, mit den Katzen und mit Maria Giuseppa, schien auch er einen Löwenmut zu bekommen. - (land)

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