umanist Ich war Schüler von Georges Dumas zur Zeit seines Traité de Psychologie gewesen. Einmal in der Woche, ich weiß nicht mehr, ob donnerstag- oder samstagmorgens, versammelte er die Philosophiestudenten in einem Hörsaal von Sainte-Anne, dessen den Fenstern gegenüberliegende Wand von oben bis unten mit fröhlichen Bildern von Irren vollgehängt war. Schon hier fühlte man sich einer besonderen Art von Exotik ausgesetzt; auf einem Podium pflanzte Dumas seine robuste, wie mit der Axt gehauene Statur auf, von einem knorrigen Haupt gekrönt, das einer durch einen langen Aufenthalt auf dem Grund der Meere gebleichten, ausgewaschenen Rübe glich. Denn seine wächserne Hautfarbe bewirkte, daß sich das Gesicht kaum von den weißen Haaren, die er sehr kurzgeschnitten trug, und dem ebenfalls weißen Schnurrbart abhob, der in alle Richtungen sprießte. Dieses wunderliche, noch mit seinen Wurzelfasern gespickte pflanzliche Treibgut wurde mit einem Mal menschlich durch einen kohlschwarzen Blick, der die Weiße des Kopfes noch stärker hervortreten ließ, ein Gegensatz, den das weiße Hemd und der gestärkte Kragen fortsetzten, die im Kontrast zu dem breitkrempigen Hut, der Halsbinde und dem Anzug standen, die stets schwarz waren.
Seine Vorlesungen waren nicht gerade lehrreich; niemals bereitete er sich darauf vor, denn er vertraute ganz dem körperlichen Charme, den das ausdrucksvolle Spiel seiner von einem nervösen Zucken verzerrter Lippen, aber vor allem seine rauhe, melodiöse Stimme auf sein Publikum ausübten: eine wahre Sirenenstimme, deren fremdartige Modulationen nicht nur an sein heimatliches Languedoc erinnerten, sondern mehr noch an regionale Besonderheiten, an sehr archaische Formen der Musik des gesprochenen Französisch, so daß Stimme und Gesicht in zwei verschiedenen sinnlichen Bereichen ein und denselben sowohl rustikalen wie beißenden Stil beschworen: den Stil jener Humanisten des 16. Jahrhunderts, Ärzte und Philosophen, deren Rasse er durch Geist und Körper fortzupflanzen schien.
Die zweite, manchmal auch die dritte Stunde waren der Vorführung von Kranken
gewidmet; dann erlebten wir erstaunliche Nummern zwischen dem durchtriebenen
Praktiker und Subjekten, die durch viele Jahre im Irrenhaus auf alle Übungen
dieser Art trainiert waren; sie wußten genau, was man von ihnen erwartete, produzierten
die Störungen auf einen Wink hin oder leisteten dem Dompteur gerade so viel
Widerstand, um ihm Gelegenheit zu einem Bravourstück zu geben. Auch wenn sich
die Zuschauer nicht hinters Licht führen ließen, waren sie dennoch von diesen
Demonstrationen der Virtuosität fasziniert. Hatte sich einer die Aufmerksamkeit
des Meisters verdient, so wurde er dadurch belohnt, daß dieser ihm einen Kranken
für ein Gespräch unter vier Augen anvertraute. Keine Kontaktaufnahme mit wilden
Indianern hat mich mehr eingeschüchtert als jener Vormittag, den ich mit einer
in Wolljacken gehüllten alten Dame zubrachte, die sich mit einem verfaulten
Hering in einem Eisblock verglich: äußerlich unversehrt, jedoch ständig in Gefahr,
sich aufzulösen, sobald die schützende Hülle schmelzen würde. - (
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Humanist (2) Ist es meine Schuld, wenn ich aus allem, was er mir sagt, die Anleihe, das Zitat heraushöre? Wenn ich, während er spricht, alle Humanisten, die ich kannte, wieder auftauchen sehe? Ach, ich habe so viele gekannt! Der radikale Humanist ist ganz besonders der Freund der Beamten. Der sogenannte «linke» Humanist trägt hauptsächlich Sorge, die menschlichen Werte zu wahren; er gehört keiner Partei an, weil er das Menschliche nicht verraten will, aber seine Sympathien gelten den kleinen Leuten; den kleinen Leuten weiht er seine schöne klassische Bildung. Das ist im allgemeinen ein Witwer, der schöne und immer tränenfeuchte Augen hat: er weint bei Gedenkfeiern. Er liebt auch Katzen, Hunde, alle höheren Säugetiere. Der kommunistische Schriftsteller liebt die Menschen seit dem zweiten Fünf jahresplan; er straft, weil er liebt. Schamhaft wie alle Starken, weiß er seine Gefühle zu verbergen, aber er versteht es auch, durch einen Blick, eine Modulation seiner Stimme, hinter seinen rauhen Worten eines Gerechtigkeitsfanatikers seine bitter-süße Leidenschaft für seine Brüder erahnen zu lassen. Der katholische Humanist, der Spätankömmling, der Benjamin, spricht mit wunderbarem Ausdruck von den Menschen. Was für ein schönes Märchen, sagt er, ist das einfachste Leben, das eines Londoner Dockarbeiters, einer Stiefelnäherin! Er hat den Humanismus der Engel gewählt; er schreibt, zur Erbauung der Engel, lange traurige und schöne Romane, die häufig den Prix Femina erhalten.
Das sind die großen Hauptrollen. Aber es gibt andere, einen Schwarm von anderen:
den humanistischen Philosophen, der sich wie ein älterer Bruder über seine Brüder
beugt und der ein Gefühl für seine Verantwortlichkeiten hat; den Humanisten,
der die Menschen liebt, wie sie sind, den, der sie liebt, wie sie sein sollten,
den, der sie mit ihrer Zustimmung retten will, und den, der sie gegen ihren
Willen retten wird, den, der neue Mythen schaffen will, und den, der sich mit
den alten begnügt, den, der im Menschen dessen Tod liebt, den, der im Menschen
dessen Leben liebt, den fröhlichen Humanisten, der immer einen Scherz auf den
Lippen hat, den düsteren Humanisten, den man vor allem bei Totenwachen antrifft.
Sie hassen sich alle untereinander: als Individuen natürlich - nicht als Menschen.
- Jean-Paul Sartre,
Der Ekel. Reinbek bei Hamburg 2004 (zuerst 1938)
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