otelzimmer  An diesem ersten Tag in Tucson verließ ich nicht mehr das Hotel. Ich badete sehr lange, zog das Anziehen möglichst lang hin, brauchte das ganze Dunkelwerden zum Zuknöpfen des Hemds, zum Zuziehen der Reißverschlüsse, Verschnüren der Schuhe. In St.Louis war ich meiner selber sosehr entwöhnt worden, daß ich jetzt nichts mit mir anzufangen wußte. Mit mir allein, kam ich mir nun übrig vor. Es war lächerlich, so allein zu sein. Am liebsten hätte ich mich geschlagen, so langweilig war ich mir. Ich wünschte mir keine Gesellschaft, nur mich selber aus dem Weg. An mir auch nur leicht anzukommen, war mir sofort unangenehm, ich hielt die Arme weit von mir ab. Sobald ich in einem Sessel meine Körperwärme spürte, setzte ich mich in den nächsten. Dann stand ich nur noch, weil mir alle Sitzflächen warm von mir selber vorkamen. Es schüttelte mich, als ich daran dachte, wie ich einmal onaniert hatte. Ich ging breitbeinig herum, wollte nicht hören, wie sich die Hosenbeine aneinanderrieben. Nichts anfassen! Nichts sehen! Schlagt doch endlich an die Tür! Ein schrecklicher Gedanke, jetzt den Fernseher anzuschalten und Stimmen zu hören, Bilder zu sehen! Ich ging zum Spiegel und schnitt mir selber Gesichter. Ich wollte mir den Finger in den Hals stecken und so lang erbrechen, bis nichts mehr von mir übrig wäre. Verletzen und verstümmeln!  - Peter Handke, Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt am Main 1972

Hotelzimmer (2)  Als der Wagen in den Hof hineinfuhr, wurde der Herr von einem Kellner oder, wie man damals sagte, Zimmerburschen begrüßt, welcher, eine Serviette unterm Arm, hurtig herbeigerannt kam und dermaßen lebhaft und quecksilbrig hin und her lief, daß man sage und schreibe sein Gesicht überhaupt nicht erkennen konnte. Dieser Mensch, der so groß war, daß die Taille seines baumwollenen Rockes ihm hoch auf dem Rücken saß, schüttelte seine Mähne und führte den Reisenden eilfertig durch einen hölzernen Laufgang, ihm im oberen Stockwerk sein ihm von Gott bestimmtes Hotelzimmer zu zeigen. Dieses war von der üblichen Art, denn auch der ganze Gasthof war von der üblichen Art, nämlich so, wie die Hotels in den Gouvernementsstädten nun einmal waren, wo die Durchreisenden für zwei Rubel täglich ein Zimmer mit Schaben erhielten, die, so groß wie Dörrpflaumen, aus allen Ecken hervorlugten. - Nikolaj Gogol, Die toten Seelen. München (zuerst 1842)

Hotelzimmer (3)

- Helmut Newton

Hotelzimmer (4)  Der schneidende Schrecken des Lebens besteht weder in seinen Mißhelligkeiten noch in seinen Mißgeschicken; diese Dinge rütteln einen auf, sie werden einem bekannt und vertraut, und dadurch werden sie am Schluß wieder harmlos... Nein, es ist eher so, als befinde man sich, sagen wir, in einem Hotelzimmer in Hoboken, mit gerade noch genügend Geld für eine letzte Mahlzeit in der Tasche. Man ist in einer Stadt, die man nie wiederzusehen hofft, und es gilt nur, die Nacht in seinem Hotelzimmer zu verbringen. Aber man braucht seinen ganzen Mut und seinen ganzen Schneid dazu, es in diesem Zimmer auszuhalten. Es muß einen guten Grund haben, warum manche Städte und manche Orte solchen Abscheu und solches Grauen einflößen. An solchen Orten muß so etwas wie ein dauernder Mord vor sich gehen. Die Menschen sind von der gleichen Rasse wie man selbst, sie gehen an ihre Arbeit wie die Leute überall, sie bauen die gleichen Häuser, nicht besser, nicht schlechter, haben das gleiche Erziehungssystem, die gleiche Wahrung, die gleichen Zeitungen - und doch sind sie grundverschieden von den anderen Menschen, die man kennt, die ganze Atmosphäre ist anders, der Rhythmus und die Spannung sind anders. Es ist fast, als sähe man sich in einer anderen Inkarnation. Mit höchst beunruhigender Gewißheit weiß man, daß nicht Geld, nicht Politik, nicht Religion, nicht Erziehung, nicht Rasse, nicht Sprache noch Gewohnheiten das Leben regulieren, sondern etwas ganz anderes, etwas, das man die ganze Zeit abzudrosseln versucht und das einen in Wirklichkeit selbst erdrosselt, denn sonst würde man nicht plötzlich erschrecken und sich fragen, wie man ihm entrinnen soll. - (wendek)

Hotelzimmer (5)   Der Fenstervorhang, das Fernsehgerät, die umgeschlagene Ecke des Teppichs, der Umriß der Schatten wurdet zur Ankündigung von etwas Unbegreiflichem. Zugleich wurde die ganze Umgebung von mir abhängig. Sie existierte ausschließlich infolge meines Willens. Ich beschloß, den Schrank daraus zu eliminieren. Der Glanz der Politur wurde matt, die Kontur der Tür dunkel, die Wand platzte, in der unregelmäßigen schwarzen Bresche verkroch sich etwas Glitschiges. Ich versuchte, den Schrank wiederherzustellen, vergeblich. Das Innere des Zimmers verschwamm von den halbdunklen Ecken her, ich konnte nur retten, was im Licht verblieb. Ich griff nach dem Telefon. Der zu spöttischer Form verbogene Hörer rutschte mir aus der Hand, das Telefon war ein grauer Stein mit rauher Oberfläche und einem Loch anstelle der Scheibe. Meine Finger durchstießen die Oberfläche und berührten etwas Kaltes. Auf dem Tisch lag ein Kugelschreiber. Unter Anspannung aller Kräfte, damit er wirklich existent blieb, schrieb ich quer über das Telegrammformular mit großen Krakeln:

23.20 NAUSEA
23.50 ILLUSIONEN UND DELUS1ONEN

Aber während ich das schrieb, gab ich der Umgebung die Zügel frei und konnte sie nicht mehr beherrschen. Ich wartete auf den Zerfall des Zimmers, statt dessen kam das Unerwartete. Ich bemerkte, daß etwas in der Nähe vorging. Die Nähe war, wie ich begriff, mein Körper. Er wurde größer. Hände und Füße entfernten sich von mir. Vor Angst, ich könnte mit dem Kopf an die Decke stoßen, warf ich mich auf das Bett. Ich lag auf dem Rücken, ich atmete mühsam, die Brust hob sich wie die Kuppel der Peterskirche, in jede Hand konnte ich ein paar Möbelstücke nehmen, ach was, das ganze Zimmer hätte darin Platz gehabt. Ein Alptraum! sagte ich mir. Ich darf ihn nicht beachten! Ich war schon so groß geworden, daß die Ränder des Körpers in der Dämmerung verschwanden. Sie irrten irgendwo herum, meilenweit entfernt. Ich verlor das Gefühl in ihnen. Nur , das Innere blieb. Es war riesenhaft. Ein labyrinthischer Bereich, ein Abgrund zwischen meinem Denken und der Welt. Im übrigen gab es keine Welt mehr. Ich beugte mich atemlos über meinen Abgrund. Wo meine Lunge gewesen war, meine Eingeweide, meine Adern, ruhten jetzt nur die Gedanken. Sie waren riesig. Ich sah in ihnen mein Leben. Es war verästelt, zerdrückt, es glühte, verkohlte und wurde zu Asche. Es zerfiel in feurigen Staub, in eine schwarze Sahara. Sie war mein Leben. Das Zimmer, in dem ich lag wie ein Fisch auf dem Grund, schrumpfte auch zu einem Körnchen. Es war ebenfalls in mir. Und da das unablässige Wachstum außerhalb der Körpergrenzen andauerte, spürte ich Angst. Die schreckliche Macht meines gesprengten Raums, der alles in gierigem Anlauf verschlang, zerstörte mich. In die Tiefe gesogen, stöhnte ich vor Verzweiflung und begann, mich auf die Ellbogen zu heben. Sie stützten sich auf die Matratze irgendwo in der Mitte der Erde. Ich fürchtete, mit einer Handbewegung die Mauer einzustoßen. Zwar sagte ich mir, das sei unmöglich, zugleich aber spürte ich mit jeder Faser, jedem Nerv, daß es so war. In einem unvernünftigen Fluchtversuch wälzte ich mich vom Bett, ich fiel auf die Knie und gelangte an der Wand zum Schalter. Das Licht überflutete das Zimmer mit einer Bleichheit, die wie ein Messer schnitt. Ich sah den Tisch, von dem eine re-genbogenfarbene Masse tropfte, das Telefon, das ausgelaugt war wie ein Knochen, fern im Spiegel mein schweißglänzendes Gesicht, ich erkannte es, aber nichts hatte sich geändert. Ich versuchte zu begreifen, was mit mir vorging, welche Macht mich sprengte und einen Ausweg suchte. War ich sie? Ja und nein. Die aufgedunsene Hand bleibt meine Hand. Aber wenn sie zu einem Berg Fleisch anwüchse und mich mit ihrem kochenden Massiv zuschüttete, könnte ich dann immer noch meinen, das sei meine Hand und nicht die Macht, die sie gesprengt hat? Sooft ich den Metamorphosen Widerstand zu leisten versuchte, kam ich zu spät, denn alles war schon verändert. Mein Blick hob jetzt die Zimmerdecke, schob sie fort, jede Stelle bog sich unter meinem Blick, sank ein, fiel zusammen, mit meinen Augen verbrannte und zerschmolz ich ein Gebäude aus Wachs. - Stanislaw Lem, Der Schnupfen. Frankfurt am Main 1979   
 
 

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