Höhle, schwangere  »Meine Herren«, sagt meine Ratte, »ich habe die Ehre, Ihrer erlesenen Gesellschaft die passenden Erklärungen zu liefern für das, was Sie jetzt bewundern und das, was Sie in Bälde bewundern werden. Wie Sie sehen, befinden wir uns in einem kolbenförmigen Glasgebäude. Es wäre mir nun ein Leichtes, mich über die symbolischen und architektonischen Feinheiten dieses Gebäudes zu verbreiten, aber ich weiß sehr wohl, welche magische und konstruktive Kompetenz Sie dazu bewegt hat, die Reise zu diesem privilegierten Ort anzutreten. Wie Sie, meine Herren, gewiß sehen, aber nicht aus eigener Erfahrung wissen können, ist dieser Ort nicht leer. Um Sie nun angemessen darauf vorzubereiten, was Ihnen in Kürze offenbart werden wird, muß ich darauf hinweisen, daß sich an diesem Ort eines der bewunderungswürdigsten Mysterien der Höhle vollzieht. Tatsächlich ist die Höhle schwanger, und ihre Schwangerschaft findet just hier statt, wo wir uns jetzt befinden. Sie werden, meine Herren, nun den Fötus sehen.

Nein ..., noch nicht. Der Fötus bleibt so lange unsichtbar, bis die Ampulle in ein Dämmerlicht getaucht wird, denn er erträgt die Helligkeit nicht und zieht es vor, im Lichte unsichtbar zu bleiben und seine prägnante und blendende Präsenz zu ignorieren. Wenn man die Lampen in wenigen Augenblicken abdunkeln wird, dann werden Sie, meine Herren, ein Behältnis sehen - eine Art riesige Glasdose - und in dem Behältnis einen dunklen Kokon, ein schweigsames längliches Bündel, das langsam atmet. Sie können sich nicht weiter nähern als bis zu dem Punkt, an dem Sie jetzt angelangt sind. Fotografieren ist erlaubt, aber ohne Blitzlicht. Im übrigen möchten wir Ihnen empfehlen, Skizzen, Notizen und kleine Ölbilder zu machen, oder sich tätowieren zu lassen, wozu Sie die Körperteile, die dafür geeignet sind, der direkten Einwirkung des Fötus aussetzen müssen. Gleich wird es dunkler werden. Da ..., und jetzt passen Sie auf!«

Wir alle mucksmäuschenstill. Ich kann nicht leugnen, daß die verlogene Stimme der Ratte eine gewisse Überzeugungskraft besitzt. Die Lichter werden schwächer. In der Mitte der Ampulle, hoch über unseren Köpfen, enthüllt sich der Glasbehälter, der das enthält, was die Ratte als Kokon bezeichnet hat, und was uns als ein dunkler Fleck erscheint, der langsam und rhythmisch pulsiert. Die Ratte macht ein Zeichen und beginnt wieder zu sprechen:

»Meine Herren ..., lassen Sie uns nun das Wunder dieses Fötus bestaunen, der sich seit jeher durch Parthenogenese in der Höhle formt. Tatsächlich ist die Höhle keusch und lehnt den Geschlechtsverkehr ab. Der Fötus hat kein bestimmbares Geschlecht. Aber das ist nicht wichtig. Das Faszinierende an diesem Fötus liegt vor allem darin, daß er nicht dazu bestimmt ist, geboren zu werden. Nie. Er ist eine Präsenz, eine beständige Zukunftsverheißung, eine beglückende Aussicht. Es steht außer Zweifel, daß der Fötus eine Mission erfüllt, doch besteht seine Mission in dieser beharrlichen und blinden Anspielung auf eine Zukunft, die nicht so sehr niemals kommen wird - denn in diesem Fall müßte sie ja zu uns unterwegs sein -, sondern die einfach nicht existiert. Der Sankt Nimmerleinstag, wie man oft scherzhaft sagt...«, und hier hohnlacht der schamlose Loddel.

»Vergessen Sie auch nicht, daß der Fötus als Erbe der Höhle rechtmäßiger Erbe eines kosmischen Besitzes ist. Seine virtuelle Präsenz ist absolut ... absolut inkommensurabel.« Die Ratte ist leicht verlegen, wie jemand, der aus Versehen ein unpassendes Wort gebraucht hat oder eines, dessen genaue Bedeutung er nicht kennt. »Nicht nur ist seine virtuelle virtuose Präsenz un er forschlich« (jetzt bewegt sich die Ratte wieder auf sicherem Grund) - »auch seine Doktrin, die sich ja inklusive Konstellationenbildung und Kenntnis der Kometen von der Doktrin der Höhle ableitet, ist... ist absolut erschöpfend. Endlich muß man noch annehmen, daß der Fötus der Verwahrer des Urprojekts ist, welches ihm durch alle in der Höhle enthaltenen Projekte übertragen wurde, die ja, wie Sie wissen, alle überhaupt möglichen Projekte sind. Wenn nun alle diese möglichen Projekte in einem einzigen endgültigen Projekt zusammengefaßt werden, dann ist es klar, daß dieses Projekt dem hier anwesenden Fötus anvertraut wird. Das Raffinierte - wenn Sie mir dieses Wort erlauben - liegt nun gerade in der verweigerten Geburt des Fötus - dieses allerhöchsten Wesens, Ingenieurs, schlummernden Weisen, mit einem Wort dieses Musterexemplars dessen, was man den schlafenden Gott nennt.« Hier folgt ein widerliches Kichern der Ratte. »Ich weiß«, fährt die Ratte fort, »daß einige von Ihnen, meine Herren, jetzt fragen werden, ob der schlafende Gott ein falscher Gott ist oder nicht. Aber ich bin kein Theologe, ich bin nur ein armer Fremdenführer, Ihr Cicerone... Ich habe noch nie gewußt, wie man einen falschen Gott von einem wahren unterscheidet...« Hier deutet die Ratte ein hämisches und hysterisches Lachen an.   - (hoelle)

 

Schwangerschaft Höhle

 

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