öflichkeit  Es ist bekannt, wie die beglaubigten Forderungen der Ethik: Aufrichtigkeit, Demut, Nächstenliebe, Mitleid und viele andere im Interessenkampf des Alltags ins Hintertreffen geraten. Desto erstaunlicher, daß man so selten über die Vermittlung nachgedacht hat, die die Menschen seit Jahrtausenden in diesem Konflikt gesucht und gerunden haben. Das wahrhaft Mittlere, die Resultante zwischen den widerstreitenden Komponenten der Sittlichkeit und des Kampfes ums Dasein ist Höflichkeit. Die Höflichkeit ist keins von beiden: weder sittliche Forderung noch Waffe im Kampf und ist dennoch beides. Mit anderen Worten: sie ist ein Nichts und sie ist alles, je nachdem, von welcher Seite man sie betrachtet. Ein Nichts ist sie als schöner Schein, als Form, gefällig über die Grausamkeit des Streits, der von den Partnern ausgetragen wird, hinwegzutäuschen. Und wie sie nichts weniger als rigorose Sittenvorschrift (sondern nur Repräsentation der außer Kraft gesetzten), so ist auch ihr Wert für den Kampf ums Dasein (Repräsentation von seiner Unentschiedenheit) fiktiv. Dieselbe Höflichkeit jedoch ist alles, wo sie von der Konvention sich selbst und damit auch den Vorgang freimacht. Ist das Verhandlungszimmer von den Schranken der Konvention wie eine Stechbahn rings umschlossen, so tritt die wahre Höflichkeit in Kraft, indem sie diese Schranken niederreißt, das heißt den Kampf ins Schrankenlose erweitert, doch zugleich all jene Kräfte und Instanzen, die er ausschloß, als Helfer, Mittler und Versöhner einläßt. Wer sich von dem abstrakten Bild der Lage, in welcher er mit seinem Partner sich befindet, beherrschen läßt, wird immer nur gewalttätige Versuche, den Sieg in diesem Kampf an sich zu reißen, unternehmen können. Er hat alle Chancen, der Unhöfliche zu bleiben.

Ein wacher Sinn dagegen für das Extreme, Komische, Private oder Überraschende der Lage ist die Hohe Schule der Höflichkeit. Er spielt dem, der ihn übt, die Regie der Unterhandlung, am Ende aber auch die der Interessen zu; und schließlich ist er es, der ihre widerstreitenden Elemente vor den erstaunten Augen seines Partners wie die Karten einer Patience verschiebt. Geduld ist ohnehin das Kernstück der Höflichkeit und von allen Tugenden vielleicht die einzige, welche sie unverwandelt übernimmt. Was aber die übrigen betrifft, von denen die gottverlassene Konvention vermeint, es könne ihnen nur in einem »Konflikt der Pflichten« ihr Recht werden, so hat die Höflichkeit als die Muse des Mittelwegs ihnen längst gegeben, was ihnen zukommt: nämlich dem Unterliegenden die nächste Chance. - (ben3)

Höflichkeit (2)  »Ein Maultier ist nicht wie'n Pferd. Wenn ein Pferd sich irgendwas Falsches in seinen Kopf gesetzt hat, braucht man weiter nichts tun, als es auf andre Gedanken bringen. Fast alles hilft da: die Peitsche oder Sporen oder es einfach erschrecken, indem man es anbrüllt. Ein Maultier ist anders. Es kann zwei Gedanken gleichzeitig im Kopf behalten, und wenn man den einen davon ändern will, dann muß man so tun, als ob man glaubte, es hätte die Idee schon vor dir gehabt. Es weiß zwar, daß es anders ist, denn Maultiere haben Verstand. Doch ein Maultier ist auch ein Gentleman, und wenn du es höflich und respektvoll behandelst, ohne daß du versuchst, es anzuschmieren oder einzuschüchtern, dann wird's auch zu dir höflich und respektvoll sein - solange du ihm nicht zuviel zumutest. Deshalb tätschelt man ein Maultier auch nicht wie ein Pferd: es weiß, daß man's nicht liebt: daß man nur versucht, es zu überlisten, damit es etwas tut, was es von vornherein nicht tun will, und das ist eine Beleidigung. So behandle es auch jetzt. Es kennt den Heimweg, und es weiß, daß nicht ich die Zügel halte. Darum brauchst du ihm nur durch die Zügelhaltung mitzuteilen, daß du den Weg auch kennst, daß es aber hier lebt und daß du bloß ein Junge bist, deshalb möchtest du ihm den Vortritt lassen.«

Wir fuhren weiter, jetzt in flottem Tempo, und das Maultier lief nett und adrett und wirbelte nicht halb soviel Staub wie ein Pferd auf; ich spürte schon, was Onkel Parsham meinte: durch die Zügel strömte etwas zu mir zurück, nicht gerade Kraft, aber Klugheit und Weisheit. - (spit)

Höflichkeit (3)  Ich habe im Rendezvous des Cheminots zu Abend gegessen. Da die Wirtin anwesend war, mußte ich sie vögeln, aber das geschah mehr aus Höflichkeit. Sie widert mich ein bißchen an, sie ist zu weiß, und außerdem riecht sie nach einem Neugeborenen. Sie drückte meinen Kopf in einem Überschwang von Leidenschaft gegen ihre Brust: sie glaubt, es gut zu machen. Ich kraulte zerstreut ihr Geschlecht unter den Decken; dann ist mein Arm eingeschlafen. Ich dachte an Monsieur de Rollebon: was hindert mich eigentlich daran, einen Roman über sein Leben zu schreiben? Ich habe meinen Arm am Schenkel der Wirtin entlanggleiten lassen und habe plötzlich einen kleinen Garten mit niedrigen, ausladenden Bäumen gesehen, von denen riesige, behaarte Blätter herunterhingen. Ameisen liefen überall herum, Tausendfüßler und Motten. Es gab noch schrecklichere Tiere: ihr Körper bestand aus einer Scheibe geröstetem Brot, wie die, auf denen man Tauben anrichtet: sie gingen seitlich mit Krabbenbeinchen. Die großen Blätter waren schwarz von Tieren. Hinter Kakteen und Feigenbäumen aus der Berberei wies die Velleda aus dem Park mit dem Finger auf ihr Geschlecht. «Dieser Garten riecht nach Kotze», schrie ich. - Jean-Paul Sartre, Der Ekel. Reinbek bei Hamburg 2004 (zuerst 1938)
 
Umgang Abstand
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