Hinterzimmer (2) Unsere Wäschehändlerin hieß Madame Herote. Ihre Stirn war niedrig und so eng, daß einem, wenn man vor ihr stand, zunächst recht unbehaglich war, aber ihre Lippen lächelten so reizend und waren so schön gewölbt, daß man ihr bald unentrinnbar verfallen war. Hinter einer bemerkenswerten Zungenfertigkeit und einem unvergeßlichen Temperament verbargen sich ein primitiver, raubgieriger Sinn und fromme Gewinnsucht.
Sie kam in wenigen Monaten zu Geld, durch die Alliierten und vor allem durch ihren Unterleib. Man hatte ihr die Eierstöcke herausgenommen, sie war im vorigen Jahr wegen einer Eierstockentzündung operiert worden. Durch diese schützende Kastrierung machte sie ihr Glück. Es gibt weibliche Gonorrhöen, die die Vorsehung gesandt hat. Eine Frau, die sich die ganze Zeit davor fürchtet, schwanger zu werden, ist impotent auf ihre Art und wird es nie sehr weit bringen.
Ich glaube, alte und junge Leute haben gemeint, man könnte im Hinterzimmer gewisser Buch- und Wäschehandlungen leicht und billig zu einem Schäferstündchen kommen. Das war vor zwanzig Jahren auch noch so, aber seither ist vieles anders geworden und leider auch diese Annehmlichkeit, Der angelsächsische Puritanis-mus dörrt uns immer mehr aus, er hat den improvisierten Schwof in den Hinterzimmern fast ganz beseitigt. Jetzt endet alles mit einer Hochzeit und mit Wohlanständigkeit.
Madame Herote verstand die letzten Möglichkeiten auszunutzen, die es noch gab, im Stehen und für billiges Geld zu lieben. Ein arbeitsloser Auktionskommissar ging eines Sonntags an ihrem Geschäft vorüber, er trat ein und ist noch immer dort. Er war etwas senil, das ist er noch. Es war ein stilles Glück. Während die Zeitungen vom letzten Opfer für das Vaterland phantasierten, lebte man sein Leben weiter, gemessen, vorsorglich und berechneter als je. Das sind Vorder- und Kehrseite der Medaille, Licht und Schatten.
Madame Herotes Kommissar legte die Gelder seiner bestinformierten Freunde in Holland an; und er besorgte das auch für Madame Herote, nachdem sie ihm ihr Vertrauen geschenkt hatte. Die Krawatten, Büstenhalter und die Hemden, die beinah welche waren, in ihrem Laden entzückten Käufer und Käuferinnen und machten ihnen Lust aufs Wiederkommen.
Eine große Zahl nationaler und internationaler Zusammenkünfte fand im rosigen
Schatten dieser Stores statt, begleitet vom ununterbrochenen Wortgeplätscher
der Inhaberin, die gewichtig, geschwätzig und parfümiert bis zur Bewußtlosigkeit
den ranzigsten Leberkranken zum Zotenreißen hätte animieren können. In diesem
Durcheinander blieb sie immer besonnen und kam auf ihre Rechnung. Sie erhob
Prozente vom Liebeshandel, und es wurde viel bei ihr geliebt. Sie vereinigte
die Paare und entzweite sie wieder, beides mit gleichem Vergnügen, sie klatschte,
verdächtigte, verriet.
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reise
)
Hinterzimmer (3) April 1918
mietete Haarmann von der Ww. Schildt in dem
Hause Cellerstraße 27 einen Laden mit Hinterzimmer, angeblich zu Bürozwecken.
Der Laden wurde mit einigenMöbel-stücken notdürftig ausgestattet. Er wohnte
zumächst noch bei seiner Schwester Burschel; zog aber Ende August in das Hinterzimmer
des Ladens. Es begann dort ein Betrieb, der den Hausbewohnern immer rätselhafter
und unheimlicher wurde. Aus und ein flogen junge
Leute. Sie brachten Rucksäcke mit Fleisch. Nachts
hörten die Nachbarn ein Hacken und Klopfen in dem Hinterzimmer; sie nahmen an,
daß Haarmann das zu seinem Schleichhandel "gehamsterte" Fleisch
zerlege. Neben dem Haarmannschen Laden war der Gemüseladen von Frau Seemann,
einer verängstigten Frau, die in jenen schweren Tagen mit ihrem Nachbarn wohl
ein bißchen Kippe machte und gelegentlich ebenfalls von den bei Haarmann ein-
und ausgehenden jungen Leuten einige Schleichware
billig erstand. Diese bängliche Frau war wohl die erste,
der eine Ahnung davon aufstieg, daß in dem Nebenraum dunkle Mordtaten vorgehen
könnten. Einmal, als Haarmann im Nebenraum Knochen hackte, klopfte
sie an die Wand und rief hinüber: "Krieg* ich auch was ab?"
Haarmann rief zurück: "Ne, das nächste Mal." Anderen
Tages brachte er ihr einen Sack Knochen. "Ich machte Sülze, daraus,
aber ich dachte: I gitte, die sehn so weiß aus; mir wird fies davor." -
Theodor Lessing, Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs. Berlin 1925
Hinterzimmer (4)