inderer    Nein, es war doch das Hakenkreuz. Dieses Zeichen ist das Unbild der Ursache all meiner Schwermut — all der Schwermut, des Unmuts und des falschen Lachens hierzuland. Und das verfluchte Mal war eben nicht aus Laune oder Leichtsinn schnell so hingewischt, vielmehr mit böswilliger Genauigkeit und schwarzer Entschlossenheit gezeichnet, dick aufgetragen und gründlich ausgemalt worden: die auf die Spitze getriebenen Haken sollten als Unheilandrohung ins Gesicht springen; und sie sprangen mir auch ins Gesicht. Mir? Ich? Ein einziges großes Aufwallen.

Im Laufen spürte ich eine ungewohnte, unpersönliche Kraft, die aber auch nicht von dem Stein in der Hand kam. Selbst die Zähne im Mund wurden zur Waffe. An der schmalsten Stelle des Bergs, wo dieser sich fast zu einem Grat verengt, stand am Geländer vor der Steilwand eine Frau im Pelzmantel. Die Gassen der Innenstadt tief unten waren nur erkennbar an den schmalen rötlichen Lichtbahnen zwischen den finsteren, kaum bewohnten Häuserblöcken. Das angestrahlte Turmpaar der Kollegienkirche, bei Tage schachturmähnlich, mit dem Reigen der hellen Steinfiguren oben auf den Flachdächern, zeigte nun in der umgebenden Dunkelheit - die Uhrkreise zu Augenöffnungen, die Simse zu Stirnwülsten geworden — die Fratzen indischer Götzen; mit dem Statuenreigen obenauf als deren Haargezüngel. Die ruhigsten und zugleich kräftigsten Lichter im Stadtbild waren die rotgelben Lampenreihen auf der Gleisebene des Bahnhofs. Die auf den Flußbrücken fahrenden Autos wiederholten sich im spiegelnden Wasser darunter als vielfach vergrößerte, anfang- und endlose Schattenkarawane. Das Aneinanderschlagen zweier Obusdrähte zischte durch die abendlich leeren Stadtplätze wie ein Peitschenhieb.

Ich übersah auf meinem Lauf nichts. Nebenbei trat ich einen im Weg liegenden Pappbecher zur Seite, da fallengelassen mit ein paar Rest-Pommesfrites drin (vor kurzem ist in der Getreidegasse ein McDonald-Lokal errichtet worden, gelobt von der Altstadtkommission für die der Umgebung angepaßte Fassade; viele Jugendliche — auch meine Kinder — treffen sich gern dort). Ein Igel, dunkelbeinig, schwarzrüsselig, mit glänzenden kleinen Augen, grub sich, wohl gerade aus dem Winterschlaf erwacht, aus einem Laubhaufen, und schwamm dann in der Blättermasse robbenartig waldwärts. Streckenweise, im Laufen besonders deutlich zu spüren, stand die Bergkuppe in den Abgasschwaden, die aus den Entlüftungs-schächten der darunter in den Felsen gehauenen Garagen kommen. Auf einem Zwergbaum, einer bloßen, in der Mitte gespaltenen Stange, hockte, in Reichweite neben dem Weg, eine riesenhafte Eule, die vor mir nicht aufflog, sondern, sich plusternd, den Kopf nach mir drehte und mir mit den runden Augen nachging.

An ihrer berghöchsten Stelle zieht sich die Straße zwischen zwei langgestreckten Felsmauern durch und bildet so einen Hohlweg. An einer Stelle war dieser Hohlweg, so sah ich es jedenfalls im Laufen, »nicht leer«. Mein Blick erfaßte als erstes die Spraydose (bei der ich »Bombe« dachte), danach den Finger am Druckknopf, und zuletzt erst die zugehörige Gestalt. Diese blieb ohne Umriß und hatte doch sofort einen Namen: jenen, den in einer angeblich wortgetreueren Bibel-Übersetzung der übliche »Böse« oder »Leibhaftige« trägt: Hinderer. — Man trifft ja immer wieder auf feindselige Gesichter; aber der Hinderer, gesichtslos, ist der Erzfeind. Ich hatte zuvor schon öfters etwas von ihm erahnt, wenn auch jedesmal nur in der Menge, im Vorübergehen: ein Daumengelenk, grotesk beweglich; ein kalkweißes Mundinneres; einen krokodilartig nackten Fuß; ein Auge, aus dem jede Farbe gleichsam ausgeronnen schien; einen vom Blasen in die Trillerpfeife geschwollenen Nacken. Doch hier sah ich ihn endlich als ganzen, und nicht in der Masse, sondern allein.

Der Läufer wurde zum Verfolger, und der Verfolger hieß »Eingreifer«. Es gab keinen Gedanken wie »Ich darf nicht« oder »Ich soll nicht«; höchstens ein: »Mir zuliebe sollte ich besser . . .« Vielleicht wäre ich freilich trotz allem an dem anderen vorbeigelaufen, wäre er nicht überdies noch mitten im Weg gestanden? Doch dann war der Stein geworfen, und der Feind lag, buchstäblich niedergeschmettert, auf dem Boden, so unvermittelt wie in der Kindheit einmal ein Hahn, welchen ich, allerdings ohne Absicht, mit einem kleinen Kiesel von ferne am Kopf getroffen habe - bloß ist das Tier seinerzeit genauso überraschend wieder auf den Beinen gestanden und davongerannt, als ob nichts gewesen wäre.  - Peter Handke, Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt am Main 1986 (zuerst 1983) 

 

Erzfeind Hindernis

 

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