Dilf dir selbst, dann hilft dir Gott    L: In meiner Studienzeit musste man sich entscheiden, entweder für den Marxismus oder für die Psychoanalyse, der Versuch, beide zusammenzudenken, galt schon bald als gescheitert. Und ich als Marxist musste die Psychoanalyse hassen und hasste sie auch, obwohl ich damals genauso wie andere Literatur zumindest die populären Freudwerke gelesen habe. Die Psychopathologie des Alltagslebens, die Traumdeutung, die Vorlesung über Hysterie, das alles war noch vor den blauen Bänden eine wichtige Entdeckung gewesen, dennoch musste ich mich später gegen die Psychoanalyse wenden. Und jetzt bin ich selbst Analytiker, aber ich glaube, dass die besten Analytiker die sind, die sich eben nicht der Psychoanalyse verpflichtet fühlen, so wie die besten Marxisten die sind, die sich nicht der Lehre von Marx, geschweige denn ihren ideologischen und realen Umsetzungen verpflichtet fühlen, die besten Christen diejenigen sind, die nicht an Gott glauben, eben alle, die nicht der Ideologie und des Glaubens bedürfen, aber dennoch die Kraft der einzelnen Lehre erkennen. Weil die Ungläubigen nicht die Lehre verteidigen müssen, weil jeder Lehre das Gebot »Du sollst nicht wissen« eingeschrieben ist, denn jede Lehre beruht auf Fehlern, und nur diejenigen, die diese Fehler sehen können, weil sie nicht an die Lehre glauben, können die Lehre wirklich umsetzen und weiterentwickeln. Indem ich nämlich an die Lehren der Kirche glaube und mühsam versuche, die über Jahrtausende in ihr angesammelten Widersprüche aufzulösen, indem ich an die Lehre Freuds als Welterklärungsmodell glaube und versuche, seine Widersprüche und blinden Flecke, seine gesellschaftlichen Fehleinschätzungen zusammen mit seinen oft fragwürdigen Nachfolgern in eine einheitliche und stimmige Lehre zu inkorporieren, werde ich Opfer eines Wahnsystems.

M'P: So deutlich würden Sie das formulieren? Ich frage nur nach, weil Sie das vielleicht etwas relativieren wollen in der Druckfassung ...

L: Nein, nein, das kann so bleiben. Es geht doch darum zu sehen, dass Freud natürlich nicht recht hatte, aber die Psychoanalyse dennoch ein brauchbares Denkmodell liefert, Marx natürlich schon eher recht hatte, dennoch nicht als Ideologie taugt, und dass das Christentum natürlich nicht recht hatte, niemand recht hatte, und der einzige Vorteil, bei allen sonstigen Schwierigkeiten, den ich für meine Generation sehe, ist das Wissen oder meinetwegen die Ahnung, dass wir eben nicht ein System haben, auf das wir uns verlassen können, weil wir die Lügen der Großväter mit dem Verschweigen der Eltern mit dem blinden Aktionismus der großen Brüder, dass wir das alles bestenfalls integriert haben in ein Nicht-Wissen. Als mir das klar wurde, kam ich auf die einzig wirklich neue Idee, die ich entwickelt habe, die darin besteht, jeden Patienten, wie schon gesagt, seine eigene Therapie entwickeln zu lassen, ihm durch Empathie und Anerkennung dessen, was er imaginiert und konfabuliert, zu einer Heilung zu verhelfen.  - (raf)

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