etzen Wenn es darum geht, lange Strecken zurückzulegen, ist der Mensch imstande, jedes andere Tier in Grund und Boden zu rennen.
Ethnographischen Untersuchungen zufolge gab es Eingeborenenvölker, die sich
diese Fähigkeit als Jagdtechnik zunutze machten, indem sie Beutetiere unerbittlich
zu Tode hetzten, was manchmal tagelang dauerte. Bei den Tarahumara-Indianern
in Nordmexiko zum Beispiel besteht die Rotwildjagd darin, daß man das
Wild zwei Tage lang hetzt — niemals aber weniger als einen Tag. Der Tarahumara
läßt das Wild keinen Augenblick zur Ruhe kommen. Nur
gelegentlich erhascht er einen flüchtigen Blick von seiner Beute, bleibt ihr
aber dank seines unheimlichen Geschicks im Spurenlesen mit unfehlbarem Instinkt
auf den Fersen. Der Indianer jagt das Wild, bis es erschöpft zusammenbricht,
oft mit völlig heruntergetretenen Hufen. Es wird dann vom Jäger erstickt oder
von den Hunden getötet. - (
mensch
)
Hetzen (2) - Elender Kerl! Was
wollte der Kerl von dem Kind! Hände weg von dem Kind! schrillte hinter mir eine
Stimme ... eigentlich hätte der Schrei im Gebrüll eines anfahrenden Lastzuges
auf der Kreuzung unhörbar bleiben müssen ... wie alle übrigen Stimmen, und auch
die Worte, die ich dem Kind ins Ohr gesagt hatte ... aufgelöst von den rasenden
Ereignissen wollte ich fort: in großem Bogen an den Tischen des kleinen Blumenmarktes
vorüber; ich sah die Alte, völlig in die Furie eines Alptraums verwandelt, mit
der schwingenden Krücke auf mich zielen, ich floh, entging aber nicht der Aufmerksamkeit
eines neuen Menschenstroms, der soeben den Bahnhof verließ. - Da, da ... schrie
die Alte, da ist er ... ich erkenne ihn genau! Bleib stehen, du Lump! Ich blickte
mich schnell um, ob ich wirklich gemeint war. Die Alte stieß mit dem Stock genau
auf mich ein: Da rennt er, der Schürzenjäger, der Hurenbock! Ihr Keifen
übertönte alles: Da haut er ab, der Fotzengockel... der Fotzengockel... Fotzengockel!
Haltet ihn ...
-
Wolfgang Hilbig, Grünes grünes Grab. Frankfurt am Main
1993
Hetzen (3) ist eine bestimmte
Zermonie weiblicher Entenvögel. Wie bei vielen
Vögeln mit ähnlichem Familienleben sind bei den
Enten die Weiber zwar kleiner,
aber nicht weniger aggressiv als ihre Männer.
Bei Auseinandersetzungen zwischen zwei Paaren kommt es daher oft vor, daß eine
Ente, vom Zorn hingerissen, allzu weit gegen das feindliche Paar vorstößt, dann
»Angst vor der eigenen Courage« bekommt, kehrtmacht und zu dem starken, sie
schützenden Gatten zurückeilt. Bei ihm angelangt, fühlt sie neuen Mut erwachen
und beginnt erneut, nach den feindlichen Nachbarn hin zu drohen,
ohne sich indessen noch einmal aus der sicheren Nähe ihres Erpels
zu entfernen. - Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. München 1974 (zuerst 1963)
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