Er trug keinen Kragen. Einer der Morins, ein Fischer, schnitt ihm jeden Monat die Haare. Man nannte diesen Morin den Friseur. Der ehemalige Zahnarzt hatte sich seit mindestens drei Tagen nicht rasiert und pflegte auch seine Hände nicht. Er pflegte sich überhaupt nicht mehr und tat nichts, außer daß er in seinem Schaukelstuhl in seiner schattigen Veranda las.
Er hatte ein Inselmädchen geheiratet, das vielleicht einmal hübsch gewesen, aber sehr schnell unförmig dick geworden war, einen Anflug von Schnurrbart auf der Oberlippe und eine kreischende Stimme hatte.
Er war glücklich. Er behauptete es wenigstens. Mit einer beängstigenden Sicherheit sagte er: »Sie werden es erleben! Wenn Sie eine Weile hier bleiben, werden Sie angefressen sein wie die anderen. Und dann kommen Sie nicht mehr fort.«
Maigret wußte, daß auf gewissen Inseln im Pazifik
sich Weiße bisweilen so gehenlassen, von Stufe zu Stufe sinken, aber er
wußte nicht, daß das auch nur drei Meilen von der französischen Küste entfernt
möglich war. - Georges Simenon, Mein Freund Maigret. München 1975
(Heyne Simenon-Kriminalromane 10, zuerst 1949)
Herunterkommen (2)
Die verlorene Welt Ich bin ohne Glück und unrasiert, Meine Gummischuhe weilen wo? Goldne Nadel, die den Schlips bestach! Wäscherin stahl mir das letzte Glück. Haß sprüht wie ein fahles Feuerwerk |
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Klabund
Herunterkommen (3)
Der Bahnhofsrestaurateur Sergej Nikanorytsch hatte einmal über viel Geld verfügt
und das Restaurant in einem großen Bahnhof gepachtet, dem Bahnhof einer Stadt,
in der die Gouvernementsvcrwaltnng saß, dem Knotenpunkt zweier wichtiger Linien.
Damals ging er im Frack und trug eine goldene Uhr. Aber seine Geschäfte gingen
schlecht, er verschwendete sein Geld an allzu kostbares Service, die Bedienung
bestahl ihn, und da er sich nach und nach immer mehr in Schulden stürzte, mußte
er mit der Zeit auf einen anderen Bahnhof übergehen, auf dem ein weniger reger
Geschäftsbetrieb war; hier verließ ihn seine Frau unter Mitnahme des ganzen
Silbers, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als an einen dritten Ort zu
gehen, der wiederum von geringerer Bedeutung war, denn an diesem gab es nicht
einmal mehr warme Speisen. Und dann kam der vierte Ort. Da er immer häufiger
wechselte und immer mehr herunterkam, war er schließlich in Progonnaja gelandet
und handelte nur noch mit Tee und billigem Schnaps und hatte als Speisen nichts
als harte Eier und eine steinharte Wurst, die nach Teer roch und die er selber
spöttisch die Musikantenwurst nannte. Eine Glatze bedeckte seinen ganzen Hinterkopf,
seine blauen Augen quollen hervor, und außerdem zeichnete ihn ein dichter Backenbart
aus, den er häufig mit einem Kamm zurechtstrich, wobei er einen kleinen Taschenspiegel
zu Hilfe nahm. -
Anton Tschechow, Der Mord.
Nach (tsch)
Herunterkommen (4)
Was die Sandrier angeht, so hatte sie viele
Liebhaber. Samt-Thomas, der in Savoyen das Amt eines
Staatssekretärs innehatte, verliebte sich, als er hier war, in sie und nahm
sie mit nach Savoyen mit dem Versprechen, sie zu heiraten, um sie den anderen
wegzunehmen. Sie behauptet, er habe sie geheiratet, habe ihr aber alle Schriftstücke
über die Eheschließung gestohlen. Ich für mein Teil glaube das nicht. Sie fügt
noch hinzu, er habe sie vergiften wollen; sie versuchte durch eine Klage bei
Gericht damit etwas herauszuschlagen, aber ich glaube, sie hat damit nichts
gewonnen. Sie kehrte vor gut siebzehn Jahren nach Paris zurück, wo sie begann,
italienische Weisen zu singen; das hatte sie in Turin gelernt. Sie sorgte für
viel Aufsehen, was aber nicht anhielt, die meisten fanden sogar, sie singe schlecht,
weil es ganz und gar nach italienischer Art ist, und sie grimassiert ganz schrecklich,
man hätte gemeint, sie habe Konvulsionen. Sie ist stark geschminkt und beschäftigt
sich mit Geistigem. Ich weiß nicht, wovon sie lebt. Vormals hatte sie Liebhaber;
der heutige Präsident von Thou war einer davon. Vielleicht hat sie etwas gespart.
- (
tal
)
Herunterkommen (5)
Herunterkommen (6)
Warum ist die Evolution, die doch anfangs molekular
geniale Worte sprach, welche das Licht mit lakonischer Meisterschaft in Substanz
verwandeln, in das unbezwingbare Gestammel immer längerer, immer komplizierterer
Chromosomensätze verfallen, und warum hat sie ihre ursprüngliche Kunstfertigkeit
vertan? Warum ist sie von Spitzenlösungen, die Lebenskraft und Lebenskenntnis
von einem Stern gewinnen, bei denen jedes Atom einkalkuliert, jeder Prozeß quantenmäßig
abgestimmt war, herabgesunken zu schludrigen, x-beliebigen Lösungen, nämlich
zu einfachen Maschinen, zu jenen Hebeln, Blöcken, Ebenen, Rutschen und Schwebebalken,
aus denen die Gelenke und Skelette bestehen? Warum ist das Prinzip des Wirbeltiers
ein mechanisch starrer Stab und nicht eine Koppelung von Kraftfeldern? Warum
ist die Evolution von der Atomphysik heruntergekommen auf die Technologie eures
Mittelalters? Weshalb hat sie soviel Mühe in den Bau von Blasebälgen, Pumpen,
Pedalen und peristaltischen Förderwerken gesteckt, also in den Bau von Lungen
und Herzen, von Gedärmen, Gebärpressen und Rührwerken des Verdauungstrakts,
während sie den Quantenaustausch in eine untergeordnete Rolle gedrängt hat -
zugunsten der armseligen Hydraulik des Blutkreislaufs? Warum hat sie, die auf
der molekularen Ebene noch immer genial ist, bei größeren Dimensionen jedesmal
gepfuscht, bis sie schließlich heruntergekommen ist auf Organismen, die trotz
der Fülle von Regelungsmechanismen an der Verstopfung eines einzigen Arterienröhrchens
sterben und während ihres Lebens, das, gemessen an der Zeit, in der die Evolution
sie zu bauen lernte, von verschwindender Dauer ist, aus dem Gleichgewicht, das
ihr Gesundheit nennt, geraten, um an Zehntausenden von Gebrechen zu erkranken,
von denen die Alge nichts weiß? - Stanislaw Lem, Also sprach GOLEM. Frankfurt am
Main 1986
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