Derrschaft, wunderbare   Die beiden jungen Mädchen kamen ebenso geheimnisvoll und leise wiederum zum Vorschein, wie sie vorher verschwunden waren. Ernst und würdig setzten sie sich zu Tisch. Gewiß hatten sie ihre Hunde und Vögel gefüttert, die Fenster der sternklaren Nacht geöffnet und im Abendwind den Duft der Pflanzen geatmet. Jetzt beobachteten sie mich unter der Wimper hervor, während sie ihre Servietten ausbreiteten. Sie suchten zu ergründen, ob ich zu den freundlichen Haustieren gehörte oder nicht. Sie hatten nämlich ihren kleinen Tierpark, einen Leguan, eine Manguste, einen Fuchs, einen Affen und Bienen. Das lebte alles durcheinander, und es war herrlicher Frieden wie einst im ersten Paradies. Sie herrschten über die Tiere der Schöpfung, bannten sie mit ihren kleinen Händen, nährten sie, tränkten sie und erzählten ihnen Geschichten, denen alle, von der Miezekatze bis zu den Honigbienen, gern zuhörten.

Ich war darauf gefaßt, daß zwei so lebhafte junge Mädchen all ihren kritischen Geist und ihren ganzen Scharfblick anwenden würden, um in heimlichem Einverständnis zu einem schnellen und endgültigen Urteil über den männlichen Gast zu gelangen. In meiner Kindheit pflegten meine Schwestern die Männlichkeit nach den Nummern u bis 19 in immer höherem Werte einzustufen, und jeder bekam seine Note, der uns das erste Mal besuchte. In einer Gesprächspause hörte man dann durch die Stille plötzlich ein lautes „Elf!", das nur meine Schwestern und ich verstanden und genossen. Meine Kenntnis dieses Spiels ließ mich allerlei erwarten, und ich war beinahe etwas bedrückt, um so mehr als ich es mit so erfahrenen Richtern zu tun hatte, die heimtückische Tiere von anständigen unterscheiden konnten, die am Gang ihres Fuchses erkannten, ob er heute umgänglicher Stimmung oder unnahbar war; sie verstanden mir zu viel von dem, was in einem vorgeht.

Dabei gefielen mir so scharfe Blicke und so gerade kleine Seelen gut, ich hätte nur lieber gesehen, wenn das Spiel nicht gar so lange weitergegangen wäre. Demütig und in der Furcht vor der Elf reichte ich der einen das Salz oder schenkte der anderen ein. Sooft ich aber hinsah, traf ich immer denselben ernsten und unbestechlichen Richterblick. Ihnen schöne Sachen zu sagen, wäre verlorene Mühe gewesen. Eitelkeit der gewöhnlichen Sorte kannten sie nicht. Stolz waren sie allerdings und dachten auch ohne meine Schmeicheleien so hoch von sich, wie ich es ihnen nie gewagt hätte zu sagen. Ich versuchte auch nicht, mit meinem Beruf Eindruck zu machen, denn viel kühner als alle Fliegerei ist es, auf die höchsten Zweige einer Platane zu klettern, nur um zu sehen, ob die Brut im Vogelnest schon Federchen hat, oder um Freunden zuzuwinken. Meine beiden schweigsamen Feen überwachten meine Mahlzeit so scharf, ich traf ihre forschenden Seitenblicke so oft, daß ich aufhörte zu reden. Alles schwieg und in dies Schweigen pfiff etwas auf dem Fußboden, raschelte unter den Tisch und war still. Da setzte die jüngere Schwester mit sichtlicher Freude an der Sache den letzten Prüfstein an. Während sie ihre jungen Zähne in das Brot grub, sagte sie mit einer Harmlosigkeit, die sicher bestimmt war, den Wilden (wenn ich einer war) zu verblüffen: „Es sind die Giftschlangen." Und sie schwieg, als ob diese Erklärung für jeden ausreichen müßte, der nicht von allen Geistern verlassen war. Ihre Schwester warf einen blitzschnellen prüfenden Blick zu mir herüber, um meine erste Bewegung zu beobachten. Beide aber neigten sich über ihre Teller mit den sanftesten und unschuldigsten Gesichtern der Welt.

„Ach so", sagte ich, „es sind Giftschlangen." Die Worte fuhren mir nur so heraus. Es war an meinen Beinen entlanggefahren und hatte meine Waden gestreift. Das waren also die Giftschlangen. Zu meinem Glück lächelte ich dazu, und ganz ungezwungen. Den Zwang hätten sie gemerkt. Ich konnte aber lächeln, weil ich lustig war, weil mir dieses Haus mit jeder Minute mehr Spaß machte. Und auch weil ich über die Giftschlangen gar zu gerne mehr gewußt hätte.

Die ältere Schwester kam mir zu Hilfe: „Sie haben ihr Nest in einem Loch gleich unterm Tisch." Und die jüngere fügte hinzu:  „Gegen zehn Uhr kehren sie heim. Tagsüber jagen sie."

Nun sah ich meinerseits mir diese jungen Mädchen an. So klug und fein mit einem verschwiegenen Lachen hinter stillen Gesichtern. Und mir kam die Herrschaft, die sie hier ausübten, wunderbar vor.   - Antoine de Saint-Exupéry, Wind, Sand und Sterne. Düsseldorf 1976 (zuerst 1939)

Herrschaft

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