emmungslosigkeit
P. O. D. Immergrün sagte: »Ja, die sogenannten Sünden sind die schönsten
Tugenden, wenn du sie ehrlich und verständig betrachtest. Vom Geiz muß ich ja
wohl kaum noch reden: Er ist die treibende Kraft hinter jedem Mann, der überhaupt
was taugt. Und Völlere! und Fleischeslust sind heutzutage durchaus zu ihrem
Recht gekommen - ich spreche jetzt natürlich in praktischen Begriffen. Der Mann
der Immergrün-Werke, der Versammlungen besucht oder Geschäftsreisen unternimmt,
ist in jeder Beziehung der Repräsentant der Firma. Wenn er es fertigbringt,
die Konkurrenz unter den Tisch zu essen und zu trinken und sie auch im Bett
zu übertreffen, so gilt das Prestige, das er damit erlangt, den Immergrün-Werken,
und mit dem Prestige wächst das Geschäft. Als Mitarbeiter unserer Firma hat
er natürlich einen großen Vorteil: Es wird erwartet, daß er sich diesen Tätigkeiten
ohne Schuldgefühl und ohne Hemmungen widmet. Niemand wird je seine Spesenrechnungen
beanstanden, noch nach seiner Moral fragen. Er ist in jeder Beziehung ein freier
Mann. - Du siehst, mein Junge, da ist gar nichts Mysteriöses an unserem
Erfolg hier. Unsere Spielregeln sind dieselben wie anderswo, aber anstatt sich
schuldig zu fühlen, wenn man sie anwendet, sollst du erkennen, wie weise und
vernünftig sie sind, und auf sie stolz sein. Das ist alles.« -
Stanley Ellin, Die sieben tugendhaften Todsünden. In: St.E,: Der Acht-Stunden-Mann.
Bern u. München 1986
Hemmungslosigkeit (2)
Streitet man mit einem Verrückten, hat man
mit größter Sicherheit das Nachsehen; denn in vielerlei Hinsicht funktioniert
sein Verstand schneller, weil er unbehindert ist durch all die Rücksichten,
die Voraussetzung eines gesunden Urteils sind. Ihn hemmen kein Sinn für Humor
und keine Nächstenliebe, keine dummen Erfahrungstatsachen. Die Einbuße gesunder
Gefühlsregungen hat seine Logik geschärft. So gesehen,
ist die gängige Beschreibung für den Geisteskranken irreführend. Der Verrückte
ist nicht der Mann, der seinen Verstand verloren hat. Der Verrückte ist derjenige,
der alles verloren hat, nur nicht seinen Verstand. - G. K. Chesterton,
Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen. Frankfurt am Main 2000
(zuerst 1908)
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