eide
Auf die Ellbogen gestützt betrachte ich die Heide, wie jemand, der sich
plötzlich bewußt ist, weit mehr zu wissen als er zu wissen wähnte. Ich weiß
es: diese Heide ist leer, weil sie in ihrem Inneren dicht bevölkert ist. Dort
liegen alle jene begraben, denen es gelungen ist zu sterben. Kein Grabstein,
keine aufgelockerte Erde, keine wunderlich ungleichen und schauerlich kräftigen
Gräser bezeichnen die Plätze der Gräber. Freilich ist dies ein lückenloser Ort,
ein Reich für zerstückelte und gedemütigte Untertanen, die nie irgendeine Form
von Ansehen gekannt haben. Hier kauern verschlagene Splitter von Kardinalen,
königliche Reiter, schlanke Zebras, tollwütige Hunde, zerfallene Fernrohre,
Pendeluhren, handschriftliche Briefe, die nicht mehr auf eine Antwort erpicht
und für sich selbst unleserlich sind; aber nicht nur Tote, sondern Tote der
Toten, heraufbeschworen in ihrer Funktion als Gespenster, von unfähigen Nekromanten
liegengelassen und gezwungen, mühsam wiederzusterben. Hier liegen Majuskeln,
Primzahlen, Throne, Würmer, Utopien, Oxymora, Koloraturen und Harfen begraben.
Doch auch dieses scheint mir sicher: daß nicht nur Totes in der Heide abgelegt
ist; hier drinnen kauert auch etwas Lebendiges, listig zwischen Betrug und Spiel
versteckt - glücklich, geahnt und vergebens gesucht zu werden; ein verschlossenes,
unschätzbares und unauffindbares Depot. Ich hege keinen Zweifel - auch wenn
mich diese Gewißheit weder zu trösten noch zu leiten vermag -, daß Du, geliebte
Bosheit, in dieser Erde eingeschlossen bist; das hast Du gewählt; Du schläfst
und wachst und schweigst, und Dein einziges Körpergeräusch ist Dein weicher
und langsamer Herzschlag - dieses Geräusch, das Du weder anhalten noch verbergen
möchtest, ein trügerischer, kindlicher, treuer Ruf. Ich wage es nicht, Dich
zu suchen: ich weiß, wenn ich der Spur Deines Körpers und Deines erlogenen Grabes
folgte, würde ich an jedem Punkt dieser Welt, die vielleicht die Welt ist, langsame
Herzschläge hören; denn überall würdest Du getötete Tiere und gebrochene menschliche
Wesen antreffen, die bereit wären, Dir ihr Herz zu überlassen - diesen lebensimulierenden
Klang; und die Heide würde mit vorgetäuschten Herzen in falschen, ergebenen
Schlägen pulsieren. Ich fürchte mich vor dieser Deiner Berufung, überall und
nirgends zu sein. Ich weiß nicht, ob das Gras über Deiner Höhle eigentümliche
Muster stickt, ob ein pflanzlicher Hinweis zum hohlen Klang der Erde führt;
vielleicht offenbart sich mir diese Erde aber auch durch Deinen Atem bewegt
oder durch Deinen nächtlichen Bück in Unruhe versetzt. Wenn ich es ihnen befehlen
würde, dann kämen die Haushofmeister mit Schaufel und Hacke angerannt und in
ein paar Tagen oder Jahren oder ein paar Ewigkeiten wäre die gesamte Heide aufgerissen
und umgepflügt und aus einer vorgetäuschten Gräserbehausung zu dem gemacht,
was sie - angefüllt nicht nur mit den vergangenen und gegenwärtigen, sondern
auch den zukünftigen Toten und seit jeher perfekt ~ schon immer war: der große
Friedhof des Jüngsten Gerichts. Und was erwarte ich dort zu finden? Welchen
Betrug fände ich anstelle Deines Schlafs? Du würdest nicht zögern, Dich in einen
Traum, eine Alraune, einen Eulenflug, ein zerschlagenes Wappen, eine unleserliche
Inschrift, eine aphasische Resonanzhöhle zu verwandeln; oder ein Depot von Fingernägeln
für eine Rasse, die irgend jemand nicht zu erschaffen beschlossen hat.
- Giorgio Manganelli, Amore. Berlin 1982
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