ausflur
Endlich sah nach langem Rufen des Schusters
Töchterchen, Katharina, mit blutigem entstelltem Gesichte aus dem Fenster des
obern Stockwerks, weigerte sich anfangs, aus Furcht, herabzukommen, öffnete
aber endlich, auf dringendes Zureden, die Hausthür
und — nun fiel der erste Blick in die Hausflur auf den in seinem Blute liegenden
Leichnam der Huber. Zwischen der ersten Stufe der in das obere Stockwerk führenden
Treppe und einem nur 1 Schuh davon entfernten Kasten, entdeckte man den, gleich
einem Igel zusammengerollten Leichnam des kleinen Michael. In des Schusters
Werkstatt, welche an mehreren Orten, besonders in der Nähe des umgestürzten
Schusterstuhles, mit vielem Blute bedeckt war, lag in der Mitte der große eiserne
Schusterhammer auf dem Fußboden und in der Schlafkammer, neben dem Bette, der
Leichnam des Huber, mit dem Gesichte der Erde zugekehrt. Auf dem Bette, neben
des Vaters Leiche, schlief vor Kälte halb erstarrt, jedoch unverletzt, das Wochenkind
der ermordeten Schusterin. Alle Leichen fand man in ihren gewöhnlichen Kleidern,
den Schuster noch mit seinem Schurzfelle umgürtet. - Anselm von Feuerbach, Merkwürdige Verbrechen. Frankfurt
am Main 1993 (Die Andere Bibliothek 98, zuerst 1828 f.)
Hausflur (2) Was eigentlich sieht der zufällige
Besucher, der hier nicht einmal unerwünscht ist, wenn er sich an die wenigen
Glasschränke im Flur des Anatomieinstituts heranwagt? Um es kurz zu sagen: drei
Gruppen organischer Gegenstände. Mumifiziertes, Eingewecktes und Knochen — und
das alles so kunterbunt und zufällig, als hätte ein Assistent es beim Umräumen
vergessen. Er kann das Trockenpräparat einer Hundelunge bestaunen und vor dem
Skelett einer Giraffe verharren. Eine gedörrte Katze,
ganz Haut und Knochen, die riesigen Augenhöhlen voll Staub, wird ihn vielleicht
an Altägypten erinnern, vielleicht an Trockenobst. Unzusammenhängendes findet
sich auf engstem Raum gestaut: neben einem Neugeborenen mit Wolfsrachen eine
abgetrennte Hand mit der lapidaren Objektbezeichnung Selbstbeschädigung durch
Abschneiden einer Hand. Ein Kalbskopf mit einem bösartigen Stirngewächs träumt
neben einem Schwein mit sechs Beinen. Zwei Gläser weiter erheben Rind und Pferd
ihre blaßgelben Wasserköpfe. Unverwandt markiert ein menschlicher Embryo mit
Wolfsrachen die Regression ins Tierische. Ein Hautpräparat mit einem tätowierten
chinesischen Fabeldrachen erinnert an die Lampenschirme aus Menschenhaut im
KZ-Museum von Buchenwald. Daneben blökt ein Paar Siamesischer
Lämmer stumm und mit herausquellenden Eingeweiden um seine Anerkennung als Agnus
Dei.
- (
gr
)
Hausflur (3) Der Schalter für das Minutenlicht befand sich irgendwo rechts von ihm. Unsicher tastete er mit dem Finger danach, als er deutlich spürte, daß jemand in seiner Nähe sein mußte. Er erstarrte und lauschte mit äußerster Aufmerksamkeit. Ein Atem? Doch es war sein eigener. Dennoch wagte er nicht, mit dem Zeigefinger weiterzutasten, da er fürchtete, auf etwas Weiches zu stoßen, ein Auge vielleicht. Wieder horchte er. So konnte er nicht stehenbleiben. Er gab sich einen Ruck. Er streckte blindlings den Zeigefinger vor. Er hatte gut gezielt. Das Licht überflutete den Hausflur.
Dicht neben ihm hockte eine dunkelhaarige Frau auf einem Mülleimer und stierte ihn mit irren Augen an. Er stieß einen unartikulierten Schrei aus. Ihr verschlug es vor Angst den Atem, ihre aufgesprungenen Lippen zitterten wie Johannisbeergelee. Er wollte sich davonmachen, glitt aber auf einem Abfallrest aus und verlor das Gleichgewicht. Mit einer krampfhaften Bewegung versuchte sie ihm auszuweichen. Der Deckel des Mülleimers klaffte auf. Schreiend fiel die Frau hintenüber. Er schrie ebenfalls, während er auf sie stürzte. Die Mülltonne schaukelte. Ihr Inhalt ergoß sich über sie. Das Licht erlosch.
Er rollte sich beiseite, um sich zu befreien. Irgend etwas entfloh und streifte
ihn dabei. Es gelang ihm, sich aufzurichten. In welche Richtung sollte er fliehen?
Wo befand sich das Minutenlicht? Zwei Hände packten ihn um den Hals und drückten
zu. Er streckte die Zunge raus und röchelte. Dann
erhielt er einen schweren Schlag auf den Kopf und verlor das Bewußtsein. -
Roland Topor, Der Mieter. Zürich 1976 (detebe 20358, zuerst 1964)
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