Dausapotheke    Ich hatte das Wochenende bei  Freunden verbracht - sie wohnen im östlichen Teil der 10. Straße in der Nähe der Fifth Avenue -, und es war ein so nettes Wochenende gewesen, daß ich mich am Montagmorgen nicht entschließen konnte, munter und vergnügt aus dem Bett zu springen und zur Arbeit zu gehen. Die beiden standen auf und gingen zur Arbeit - ich aber nicht. Erst gegen halb drei Uhr nachmittags begann ich mit der Morgentoilette. Ich seifte mein Gesicht ein, um mich zu rasieren; das Waschbecken war mit heißem Wasser gefüllt. Plötzlich schnitt ich mich mit dem Rasiermesser. Ich schnitt mich ins Ohr. Sehr wenige Männer schneiden sich beim Rasieren ins Ohr, aber ich neige dazu. Vielleicht, weil ich in der Schule das Schreiben nach der alten Spencer-Methode gelernt habe, bei der man das Handgelenk locker halten muß. Ohren bluten sehr stark, wenn man mit dem Rasiermesser hineinschneidet, und man kommt schwer an die Wunde heran.

Mein Ärger war größer als der Schmerz. Ich riß die Tür des Medizin schränkchens auf, um einen Alaunstift zu suchen -und schon fiel vom obersten Brett ein kleiner schwarzer Umschlag herunter, der neun Nadeln enthielt. Offenbar pflegte diese Hausfrau einen kleinen schwarzen Umschlag mit neun Nadeln auf dem obersten Brett des Medizin-schränkchens zu verwahren. Das Päckchen fiel in das seifige Wasser des Waschbeckens, wo das Papier rasch aufweichte und die neun Nadeln freigab. Ich war natürlich, wie man sich denken kann, weder seelisch noch körperlich in der richtigen Verfassung, neun Nadeln aus einem Waschbecken herauszufischen. Kein Mensch mit Seifenschaum im Gesicht und mit blutendem Ohr ist in der richtigen Verfassung für irgend etwas, nicht einmal für den Umgang mit neun großen, stumpfen Gegenständen. Von neun kleinen, spitzen Nadeln ganz zu schweigen.

Mir erschien es nicht ratsam, den Stöpsel herauszuziehen und die Nadeln mit dem Wasser ablaufen zu lassen. Ich hatte Visionen von verstopften Rohren im ganzen Haus. Außerdem schreckte mich die unklare Befürchtung, daß ich irgendwie einen Kurzschluß verursachen könnte (ich habe sehr wenig Ahnung von Elektrizität, und ich will das alles auch gar nicht erklärt haben). Ich tastete also vorsichtig in dem Waschbecken herum und hatte schließlich vier Nadeln in der einen und drei in der anderen Hand - zwei waren und blieben unauffindbar. Wäre ich imstande gewesen, schnell und scharf zu überlegen, so hätte ich die Nadeln nicht angerührt. Ein eingeseifter Mann mit blutendem Ohr, der vier nasse Nadeln in der einen Hand und drei in der anderen hält, hat wohl den denkbar tiefsten Punkt menschlicher Leistungsfähigkeit erreicht. Er kann nichts anderes tun, als hilflos dastehen. Ich versuchte, die Nadeln aus der linken Hand in die rechte zu befördern, aber ich bekam sie einfach nicht los. Nasse Nadeln kleben an der Haut. Schließlich wischte ich die Nadeln an einem Frottiertuch ab, das über der Wanne hing. Es war das einzige Handtuch, das ich entdecken konnte. Nachdem ich mir die Hände an der Badematte abgetrocknet hatte, suchte ich die Nadeln, die in dem Handtuch stecken mußten. Sieben Nadeln aus einem Frotteegewebe herauszuangeln ist die langweiligste Beschäftigung, mit der ich mich jemals abgegeben habe. Außerdem fand ich nur fünf. Zusammen mit den beiden, die im Waschbecken geblieben waren, fehlten jetzt also vier - zwei lagen im Becken, und zwei lauerten im Handtuch oder waren m die Wanne gefallen. Ich malte mir angstvoll aus, was demjenigen zustoßen würde, der das Handtuch benutzte oder sich das Gesicht im Becken wusch oder in die Wanne stieg. Wenn ich die fehlenden Nadeln nicht fand, waren die Folgen unabsehbar. Nun, ich fand sie nicht. Ich hockte mich auf den Rand der Badewanne, um nachzudenken, und kam zu dem Ergebnis, daß ich nichts anderes tun konnte, als das Frottiertuch in eine Zeitung zu wickeln und mitzunehmen. Ich beschloß, meinen Freunden einen Zettel dazulassen und ihnen so klar wie möglich auseinanderzusetzen, daß vermutlich zwei Nadeln in der Badewanne und zwei Nadeln im Waschbecken lägen und daß sie gut daran täten, vorsichtig zu sein.

Ich durchsuchte die ganze Wohnung, konnte aber nirgends einen Bleistift, einen Federhalter oder eine Schreibmaschine finden. Nur Papier war reichlich vorhanden. Ich weiß nicht, was mich auf die Idee brachte - vielleicht hatte ich so etwas im Kino gesehen oder in einem Buch gelesen -, jedenfalls kam mir plötzlich der Gedanke, die Botschaft mit einem Lippenstift zu schreiben. Vielleicht besaß die Hausfrau einen Reserve-Lippenstift; wenn ja, so würde er zweifellos in der Hausapotheke liegen. Ich ging zu dem Schränkchen, kramte darin herum, erspähte etwas, was wie die Metallhülse eines Lippenstiftes aussah, ergriff es mit zwei Fingern und zog sachte daran - es lag unter einem Haufen anderer Gegenstände. Alles in der Hausapotheke kam ins Rutschen. Flaschen zerbrachen im Waschbecken und auf dem Boden; rote, braune und weiße Flüssigkeiten spritzten umher; Nagelfeilen, Scheren und Rasierklingen klirrten, klapperten und klimperten. Ich war über und über mit Parfüm, Mundwasser und Hautcreme beschmiert.    - James Thurber, nach: Vom Geheimnis der alltäglichen Dinge. Hg. Johannes Werner. Frankfurt am Main 1998

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