aus Gottes Wie grausam ist doch die Wohltat unserer Hospitäler! Wie trügerisch und tödlich diese Köder, wie mörderisch die Hilfe, die sie zu bieten vorgeben! Wer in ihren Mauern stirbt, stirbt tausendmal trauriger und schrecklicher, als wer zwar im Elend, doch unter dem eigenen Dach sich selber überlassen bleibt und die Natur gewähren läßt. Hôtel-Dieu - das Haus Gottes! Man wagt es tatsächlich, diese Stätte so zu nennen! Welch unmenschliche Verhöhnung der Qualen, die darin erlitten werden! Gewiß, Arzt und Feldscher sind frei. Zugegeben, auch für Arzneien nimmt man nichts. Dafür bettet man den Kranken zwischen den Sterbenden und den Toten; wohin sein Auge schweift, ist Agonie, so daß sich die ohnehin verstörte Seele all dieser Angst und Schrecknis kaum zu erwehren weiß...
Das Haus Gottes! In ihm herrscht reiner Despotismus. Die Luft, die der Kranke dort atmet, ist von fauligen Miasmen erfüllt; seine Schmerzensschreie, seine Bitten, seine Klagen verhallen ungehört; niemand steht ihm bei, niemand tröstet ihn, richtet ihn auf; die Gleichgültigkeit geht so weit, daß er, schon auf dem Weg zur Besserung, riskieren muß, als Toter weggeschafft zu werden. Mörderisch blind ist in diesem Haus sogar das Mitleid; keine Spur von dem, was diesen Namen verdiente, ist dort zu finden, weder die Fähigkeit, sich in den ändern einzufühlen, noch die geringste Hilfsbereitschaft, und am allerwenigsten die Träne irgendeiner Empfindung...
Das Haus Gottes! Alles an diesem Ort der Leiden ist hart und böse. Leute,
die mit verschiedenen Krankheiten behaftet sind, steckt man unter eine Decke,
und ein leichtes Unwohlsein wächst sich auf diese Weise im Handumdrehen zu einem
schlimmen Übel aus. Wer dazu in der Lage ist, flieht dieses blutige und widersinnige
Hospiz! Aus freien Stücken wagt es keiner, seinen Fuß in dieses Schreckenshaus
zu setzen, wo das Lager der Barmherzigkeit hundertmal grausamer ist als selbst
der karge Schrägen des Bedürftigen. Dieweil aber diese empörenden Greuel das
Auge des Fremden betrüben und die Herzen der Einheimischen bedrücken, vernimmt
man mit Erstaunen und Verbitterung, daß es die Männer, denen die Verwaltung
dieser wichtigen Institution anvertraut ist, noch immer nicht für nötig erachten,
sich von der Schmach der schweren gegen sie erhobenen Anklagen zu reinigen.
Unvermindert groß ist der Skandal, der sie umwittert; entgegen seinem Kanon,
der bestimmt, daß alles Kirchengut nach altem Recht als Eigentum der Armen anzusehen
ist, hat der Klerus die Mittel, die ihm zu Gebote stehen, mitnichten zur Linderung
der allgemeinen Not genützt. Seine heiligste Christenpflicht
nimmt er also nur mit Lauheit wahr und versucht noch nicht einmal, dies zu verbergen!
Wer das, was dem Troste der Bedürftigen dienen müßte, in seine eigene Tasche
steckt, begeht ein Sakrileg, und in dieser Institution, die einst im Namen der
Barmherzigkeit geschaffen wurde, unterschlägt man ganze Vermögen! Stünde dagegen
deren voller Reichtum zur Verfügung, verlöre die Stätte viel von ihrem Grauen.
Gibt es ein anderes Verbrechen unter diesem Himmel, das so abscheulich und verächtlich
ist wie dieses? Und doch werden mit lauter Stimme gerade jene bezichtigt, es
begangen zu haben, deren Namen, wenn es mit rechten Dingen zuginge, nicht anders
als mit zärtlichem Respekt zu nennen wären. - Louis Sébastien Mercier, Mein Bild von Paris.
Frankfurt am Main 1979 (zuerst ca. 1780)
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