auptstadt
Berlin, 23. April 1903 Die Eindrücke, welche ich in der Reichshauptstadt
erhielt, blieben hinter den zu hoch gespannten Erwartungen um ein Bedeutendes
zurück. Das kommt daher, weil Leute, die von hier nach außerhalb kommen, in
unglaublichen Übertreibungen sprechen. Was sich mir am ersten Tage meines hiesigen
Aufenthaltes, dem 20. April, nicht bot, fand eine Entschädigung durch das, was
in den wenigen folgenden Tagen meine Bewunderung in Anspruch nahm. Nicht viel
ist, was ich gesehen habe von all den Sehenswürdigkeiten meiner neuen Heimat.
Heimat? Das Elternhaus ist verlassen mit den Unterbrechungen der Ferien auf
immer. Die Hoffnungen auf ein arbeitsames, freies, fast ideales Studentenleben,
versinken schon jetzt in Nacht. Die Zeremonien der Immatrikulation, die Notwendigkeit,
ein leidiges Brotstudium zu ergreifen, ein gewisses banges Gefühl, auch den
schönen Künsten zu leben, das wirkt etwas drückend auf meine ganze Stimmung.
- Oskar Loerke, Tagebücher 1903 - 1939. Frankfurt am Main 1986 (st 1242)
Hauptstadt (2) Diese Stadt, so sagte er, liegt außerhalb Deutschlands, außerhalb Europas. Sie ist die Hauptstadt ihrer selbst. Sie nährt sich nicht vom Lande. Sie bezieht nichts von der Erde, auf der sie erbaut ist. Sie verwandelt diese Erde in Asphalt, Ziegel und Mauer. Sie spendet mit ihren Häusern dem Flachland Schatten, sie liefert aus ihren Fabriken dem Flachland Brot, sie bestimmt die Sprache des flachen Landes, die nationalen Sitten, die nationalen Trachten. Es ist der Inbegriff einer Stadt. Das Land verdankt ihr seine Existenz und geht gleichsam aus Dankbarkeit in ihr auf. Sie hat ihre eigene Tierwelt im Zoologischen Garten und im Aquarium, im Vogelhaus und im Affenhaus, ihre eigenen Pflanzen im Botanischen Garten, ihre eigenen Felder aus Sand, auf denen Fundamente gesät werden und Fabriken aufgehen, sie hat sogar ihre eigenen Häfen, ihr Fluß ist ein Meer, sie ist ein Kontinent. Sie allein von allen Städten, die ich bis jetzt gesehen habe, hat Humanität aus Mangel an Zeit und anderen praktischen Gründen. In ihr würden viel mehr Menschen umkommen, wenn nicht tausend vorsichtige, fürsorgliche Einrichtungen Leben und Gesundheit schützten, nicht weil das Herz es befiehlt, sondern weil ein Unfall eine Verkehrsstörung bedeutet, Geld kostet und die Ordnung verletzt. Diese Stadt hat den Mut gehabt, in einem häßlichen Stil erbaut zu sein und das gibt ihr den Mut zur weiteren Häßlichkeit. Sie stellt Pfeiler, Hölzer, Planken, ekelhafte, gläserne, bunte, von innen beleuchtete Kröten an die Straßenränder, in die Kreuzungen, auf die Plätze. Ihre Verkehrspolizisten stehen mit metallenen Signalen da, die wie eben und provisorisch von der Eisenbahnverwaltung ausgeliehen sind und tragen dabei gespenstisch weiße Handschuhe.
Außerdem duldet sie noch in sich die deutsche Provinz, freilich, um sie eines
Tages aufzufressen. Sie nährt die Düsseldorfer, die Kölner, die Breslauer,
um sich von ihnen zu nähren. Sie hat keine eigene Kultur in dem Sinne wie Breslau,
Köln, Frankfurt, Königsberg. Sie hat keine Religion. Sie hat die häßlichsten
Gotteshäuser der Welt. Sie hat keine Gesellschaft. Aber sie hat alles, was überall
in allen anderen Städten erst durch die Gesellschaft entsteht: Theater, Kunst,
Börse, Handel, Kino, Untergrundbahn. - Joseph Roth: Die Flucht ohne Ende,
1927, nach: Gert und Gundel Mattenklott, Berlin Transit. Eine Stadt als Station.
Reinbek bei Hamburg 1987
Hauptstadt (3)
Du weißt wohl, o Satan, Schutzgeist meines Elends, Sondern, wie ein alter Lüstling an einer alten Mätresse, Ob du noch in den Laken der Frühe schläfst, Ich liebe dich, o verruchte Hauptstadt! |
-
Baudelaire, nach (
fran
)
Hauptstadt (4) Keine Hauptstadt,
keine großen Städte mehr! Wenn ich mich nicht irre, ist die Existenz der
großen Städte ein Symptom der öffentlichen mißlichen Umstände und ein unfehlbarer
Vorläufer der Bürgerkriege. Die großen Grundbesitzer, die großen Kapitalisten
und die reichen Kaufleute bilden ihren Kern, um den sich eine große Menge
Leute scharen, die auf ihre Kosten leben, indem sie für ihre Bedürfnisse
sorgen, ihrem Geschmack schmeicheln, indem sie ihren Launen nachgeben und
ihre Laster begünstigen. Je bevölkerter eine Stadt ist, um so mehr Dienstboten,
liederliche Frauen, ausgehungerte Schriftsteller, Dichter, Musiker, Maler,
Schöngeister, Schauspieler, Tänzer, Priester, Unterhändler, Diebe und Possenreißer
findet man dort. - Filippo Buonarroti, Babeuf und die Verschwörung
für die Gleichheit. Nach: Ralf Höller, Der Kampf bin ich. Rebellen und Revolutionäre aus sechs Jahrhunderten.
Berlin 2001
Hauptstadt (5) Eine kompakte
Pfahlmauer zieht sich durch die Heide, etwas wie ein altes Heerlager oder eine
befestigte Stadt steht vor meinen Augen; in der Mitte öffnet sich ein Eingang;
das Holz ist alt, morsch, brüchig und zersplittert; jemand möchte den Eindruck
erwecken, daß diese Pfahlmauer sehr alt sei; vermutlich war sie schon immer
da. Soweit ich erkennen kann, bildet die Pfahlmauer ein endloses Quadrat; vielleicht
steht wirklich eine Stadt vor mir, eine Hauptstadt, die Hauptstadt. Aber
der Geruch von Hinfälligem, Kraftlosem, Verbrauchtem verbietet mir, an Deinen
Palast zu denken. Ein sanfter Wind bringt mir den Geruch von Moos und winzigen
toten Tieren herüber, indes von jener Struktur ein seltsam finsterer Hauch von
Schabernack ausgeht. Der Eingang liegt vor mir. Die Haushofmeister sehen mich
fragend an: es ist deutlich: sie denken, daß ich eintreten könnte, aber vielleicht
nicht sollte. Jedenfalls können sie mich nicht begleiten. Ihre Würde ist zugleich
bedroht und unangemessen. Ich habe also meine falsche Königswürde wieder in
der Hand; indem ich sie darstelle, ermahnt sie mich, meine Aufgabe nicht zu
vernachlässigen: ich muß eintreten. Langsam gehe ich auf den Eingang zu, aber
jenseits der Pfahlmauer sehe ich nichts. Ich muß also bis zur Schwelle vordringen.
Bewege ich mich auf einen Betrug, einen Hinterhalt zu, oder ist dieses Lager
ein trotziger, nunmehr verlassener Ort - eine Bastion der Wüste? Ich werde nicht
fliehen. Auf der Schwelle angelangt, bleibe ich stehen.
Es könnte eine große Theatermaschine sein, doch irgend etwas sagt mir, daß es
sich um etwas anderes handelt. Große Bauten ragen getrennt empor, wie einzelne
Königspaläste. Heruntergekommene, verfallene Gebäude; Fenster, nur noch mit
Splittern von Glas; Türen, die seit Jahrhunderten niemand mehr geöffnet oder
geschlossen hat. Die Mauern senken sich bereits, die Straße ist ein trockener
Sumpf. Fünf Gebäude, fünf Konigspaläste; drei zu meiner Rechten, einer zur
Linken, einer vor mir. Ich bin sicher, daß diese Paläste nicht unbewohnt sind.
Jemand lebt in dieser Stadt. Jemand hat versucht, diese finster erhabenen Gebäude
weniger zu retten, als sie mit einer künstlichen Würde zu umgeben. Man hat Spinnennetze
entfernt, die sich schon emsig wiederweben. Und überall empfängt mich - nicht
ohne Wohlwollen - ein seltsamer Modergeruch, ein penetranter, feierlicher Gestank.
Zahllose Holzwürmer und Ratten arbeiten an diesen gewaltigen Gebäuden, ihren
einsturzgefährdeten Dächern, den verstümmelten Laubengängen; der Pomp des Endes,
eine leichenhafte und zarte Pracht beherrscht diese todeslüsternen Paläste,
- Giorgio Manganelli, Amore. Berlin
1982 (Wagenbach Quartheft 118, zuerst 1981)
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